Montag, 31. Dezember 2012

2012 ist durchgefallen

Die Qualität eines Jahres im Rückblick zu bestimmen, ist in erster Linie eine Frage des Charakters. Etwa so wie bei der Einschätzung, ob ein Glas nun halb voll oder halb leer sei.
Am 31.12. geraten wir immer in ein Abwägen, das ich schon in der Schule gehasst habe: Die Erörterung. 

Dass sie später zu einem wesentlichen Bestandteil meines Berufes wurde, ließ sie mich nicht lieben lernen. Wenn der Journalismus heute zum Teil so ein erbärmliches Bild abgibt, dann hängt das nicht damit zusammen, dass die Männer und Frauen, die diesen Beruf gewählt haben, nicht mehr bereit gewesen wären, zu erörtern. Sie werden vom ersten Berufsjahr an der Illusion beraubt, dass Ausgewogenheit gefragt ist. Standpunkte werden von "höheren Mächten" bestimmt, Ausrecherchieren könnte ja die Story und damit bei Häufung den Job kosten...

"Quietsch machte die Geschichte und ward zu Tode recherchiert", sagte einmal ein Textchef zu mir - seinem Vertragsautoren - weil das Ergebnis der Recherche zu einer Serie nicht zur politischen Position der Zeitschrift gepasst hatte. Habe ich mich gewehrt, gekämpft oder Konsequenzen gezogen? Noch nicht einmal richtig aufgeregt habe ich mich, als meine Arbeit in der Schublade verschwand und kurz darauf ausgerechnet der SPIEGEL mit dem gleichen Thema im gleichem Konsens erschien. Ich wurde ja mit großzügigen Honoraren sediert. Heute gibt es noch nicht einmal mehr die. Nur noch die blanke Angst um den Job.

Ab dem dritten Jahres-Rückblick - ob geschrieben oder gesendet - habe ich deshalb auf Durchzug geschaltet. Kann es wirklich sein, dass ich hier auf der Burg die Perspektive verloren habe?

Ich habe mich dann in die Bewohner dieses Borgos vor 500 Jahren zurück versetzt. Deren flaches Weltbild war gerade durch einen hier gebürtigen Nachbarn rund gemacht worden. Dass die Geschichte ihn als Genueser bezeichnet, liegt darin begründet, dass die Leutchen hier ständig von den Mächtigen im Klerus und von Königen hin und her geschachert wurden. Bei der Geburt von Kolumbus gehörten sie gerade mal wieder zu Genua. 

Später auch zu Savoyen oder Frankreich: An ihrem Leben in Fron von Gutsherren oder als Kleinbauern änderte das nicht viel, weil es ihnen im Prinzip wurscht sein konnte.Die Welt da draußen interessierte sie nur insofern, als sie Ausschau nach Piraten oder anderen bewaffneten Seefahrern hielten, die die Früchte ihrer Arbeit stehlen oder enteignen wollten. Coloro che vengono dal mare vuole derubarci! 

Dann packten die Guerrini, die Grandiolios oder die Torrianis in ihren Bauernhäusern die Sachen zusammen und übersiedelten in ihre am höchsten gelegenen Wehrdörfer bis der Spuk halbwegs vorbei war. Da gab es allenfalls die Folgen des Ernte-Ausfalls zu erörtern. Weshalb es außerhalb ihrer Täler in der Welt so zuging, war von nachgeordnetem Interesse. Das änderte erst das Novecento.

Wenn meine Frau und ich jetzt auf die zurück liegenden vier Monate hier oben blicken, kommen wir unabhängig voneinander zu dem gleichen Ergebnis, dass dies eine der glücklichsten Zeiten unseres Lebens gewesen war. Aber angesichts der Tatsache, dass wir im Januar wieder zurück nach München müssen, meldet sich auch der Gewissenswurm. Dürfen wir eine Zeit so toll gefunden haben, in der es anderen auf der ganzen Welt in diesem Jahr so schlecht erging?

Würden Politiker ihr Tun so offen erörtern, könnten sie vermutlich keine Nacht mehr schlafen. Weil sie das nicht tun, sind sie wohl Politiker geworden. Das sollte Journalisten jedoch von ihnen unterscheiden. Nicht, dass von beiden Berufsgruppen gelogen würde, dass sich die Balken biegen. Es ist die Systematik des Weglassens, die beunruhigt. Es sind Isolierte Blickwinkel, die in einer schiefen Perspektive Versagen als Erfolge erscheinen lassen.

Aus meiner privilegierten Burg-Perspektive kommt meine Erörterung des Jahres 2012 dennoch zu dem Ergebnis:
Durchgefallen!

Donnerstag, 27. Dezember 2012

Vom Bimmeln und Ballern

Friede auf  Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! So lautet die Weihnachtsbotschaft nach Lukas 2,14. Manchmal glaube ich, dass die Adepten im Mutterland der Kirche viel weniger stoisch mit den Evangelien umgehen, als selbst so ein "Ungläubiger" wie ich.

Als am zweiten Weihnachtsfeiertag punkt drei Uhr unten vor Santo Stefano die alljährliche Prozession startete und der Küster - weniger campanologisch geschult als eifrig hektisch - sein Glockenspiel betätigte, ging das hier oben im schweren Feuer unter. Aus dem Unterholz der mit Steineichen bewachsenen Hügeln ringsum blafften und peitschten die Schüsse aus Hunderten von Jagdwaffen derart arhythmisch und schnell, dass ich angst hatte, der Glockenspieler würde das Tempo seines Bimmelns letztendlich überheizen. Ich erwartete daher eher einen Frontbericht als die Weihnachtsbotschaft...

Seit ich hier lebe, rätsel ich, ob die Ballerei der Jäger tatsächlich der Beschaffung von Wildbret für die Festtafeln der Feiertage oder eher dem Spaß an der Knallerei dient. Denn - wie erwähnt - vernünftiges cacciagione ist hier nur schwer zu erwerben, und selbst in Restaurants bekommt man meist nur knochiges Ragout. Selbst wenn nur jeder fünfzigste Schuss ein Treffer wäre, müssten in ligurischen Privathäusern dieser Tage Wildschwein-Orgien gefeiert werden, die selbst einen Obelix zufrieden stellten... Aber Obelix (in diesem Fall der Burgbriefe-Schreiber) geht stets leer aus... 

Deshalb verbreitet er gerne das Gerücht, dass Ligurer die lausigsten Jäger der Welt sind. Immerhin gab es schon einschlägige Erfahrungen in dieser Richtung (siehe frühere Posts), und erst neulich lief auf der Bergstraße hinauf zur Burg ein prächtiger Fasan vor uns her, der auf der Flucht immer wieder umfiel, weil ihm einer die stabilisierenden Schwanzfedern weggeballert hatte. Über die Böschung zu springen, traute er sich nicht. Wir fuhren so langsam hinter ihm her, dass er keine Angst haben musste, bis er endlich einen Trampelpfad ins Unterholz gefunden hatte und verschwand. In unserer menschlichen Zwiespältigkeit der Gefühle, wünschten wir ihm das Überleben. Aber mal ehrlich: Als Braten hätte er uns ganz sicher auch gemundet. - So wie dem Fuchs, der ihn vermutlich noch vor den kalten Tagen erwischt hat...

Aber zurück zum Bimmeln:
Da gilt es, etwas einzugestehen, dass mich nach dem letzten Post mal wieder so richtig als alten und vor allem gänzlich uncoolen Computer-Trottel dastehen lässt. Severin, der Lebensgefährte unserer Christkind-Tochter sieht es wohl als seine "biologisch-schwiegersöhnliche" Pflicht jeden meiner Posts genau zu studieren, um daraus- vermeintliche Pluspunkte sammelnd - gelegentlich zu zitieren. Sogar einen eigenen Ordner hat er für die Burgbriefe auf seinem Smartphone eingerichtet - der Streber! Denn diesmal stieß er mir beim Weihnachtsfrühstück unbarmherzig einen virtuellen Dolch in meinen vom Alter gebeugten Rücken.

Und mein Nerd-Sohn konnte es natürlich auch nicht lassen, zu meiner vergeblichen Bescherungsglocken-Suche einen seiner stets paraten Rechthaber-Sprüche abzulassen:
There is an app for that!

Und richtig: Severin ging nur kurz auf "google-play-store", gab "christmasbell" ein, wählte unter vier Glocken-Typen eine aus, lud die App hoch und begann, sein Smartphone hin und her zu schwingen. - Es klag genau wie unser Bescherungsglöckchen daheim.

Guter Aldous Huxley! Deine "Brave New World" war einfach nicht phantastisch genug. Demnächst werden Gemeinde-Diener, Vorsitzende und sonstige Glockenschwinger einfach nur noch mit dem Smartphone wedeln.

Dienstag, 25. Dezember 2012

Urbi@Orbi

Wie lang il Papa tedesco auf Erden noch Stellvertreter "jenes höheren Wesens, das wir so besonders verehren" (Zitat "Dr. Murkes gesammeltes Schweigen" von Heinrich Böll) sein wird, scheint fraglich. Beim Weihnachten im Petersdom machte er immerhin einen recht hinfälligen Eindruck. Il Retrospettivo, wie er von seinen Kritikern auch genannt wird, scheint aber in seinem möglichen Endspurt doch mal etwas riskieren zu wollen. Nicht nur,dass er seit neuestem twittert oder twittern lässt, während manche seiner Kardinäle das Internet  und die elektronischen Kommunikationsinstrumente verteufeln, er war auch in seiner Weihnachtspredigt  politisch so vorwärts gewandt wie selten. Überrascht hat mich vor allem, dass er die Gefahr übersteigert interpretierter Religionsinhalte als Gefahrenquelle für gesellschaftlichen Frieden beim Namen nannte.

So weit ein Agnostiker zum nächtlichen Geschehen in der katholischen Welthauptstadt. 

Eigentlich sollte ja die Überschrift zu diesem Weihnachts-Post Castellum@Orbi heißen, denn diese Weihnacht hier oben war schon speziell, was den Einsatz von Smartphones, Tablets, oder Powerbooks beim Übermitteln von Botschaften anging. Vom Burgberg für die Welt smste, twitterte  und skypte es nur so  entgegen, dass ich mir mit meinen simplen e-mails vor den Festtagen ganz schön rückständig vorkam. 

Entsprechend unromantisch fielen auch einige der Geschenke aus. Unsere "Christkind"-Tochter bekam ein Zusatzgerät, damit sie von ihrem Tablet aus ein anderes Fernsehen sehen kann, wenn ihr Lebensgefährte Sportschau guckt. Die "Zweitbeste" kann jetzt trotz unserer Meter dicken Wände selbst ins Internet und  nicht länger ihren e-mail-Wechsel auf mich abwälzen, und die Buben (33 und 31) überreichten sich nur nett verpackte Kärtchen, auf denen Codes standen, mit denen die Game-Geschenke direkt aus dem Netz auf den Computer geladen werden können. Der Burgbriefe-Schreiber bekam RAMs, damit er im Netz nicht länger rumbummeln muss.

Zur Ehrenrettung aller sollte ich aber betonen, dass mehr auf Stimmung ausgerichtete, nicht elektronische Geschenke mit der gleichen Euphorie entgegen genommen und geherzt wurden - allerdings nur so lange bis die weltumspannende "Battle" um das Posten der schönsten Weihnachtsbäume die volle Aufmerksam der Generation IT beanspruchte. Es siegte ein  als Weihnachtsbaum getarnter Darth Vader mit Maske anstatt Weihnachtsstern auf der Spitze. Ob der allerdings auch keuchen konnte: "Luke - ich bin dein Weihnachtsbaum!", wurde nicht übermittelt.

Es gibt ja mittlerweile für jede Lebenslage Apps. Deshalb vermute ich mal, dass die Weihnachten, an denen ein Familien-Mitglied die Weihnachtsgeschichte aus einer Bibel vorliest, und wir alle mehr oder weniger gekonnt, die traditionellen Lieder vom Blatt singen, bald gezählt sein werden. Es ist ja auch viel komischer, koreanische Kinder bei YouTube "Stille Nacht, heilige Nacht" auf Deutsch singen zu hören - oder Traktoren, die mit unterschiedlichem Gas Geben "O Tannenbaum" intonieren.
Eine App, die dringend "beim Warten auf das Christkind" benötigt worden wäre, gab es allerdings nicht: Die Glocke, mit der bei uns traditionell die Übergabe der Geschenke eingeläutet wird, war in München vergessen worden. So musste die Stimme des Burgbreife-Schreibers über vier dick gemauerte Stockwerke herhalten:

"Bescheeeeeerung!!!"

Samstag, 22. Dezember 2012

Eine wahre Weihnachtsgeschichte

Der Baby-Fetisch


  Als sie sich zum ersten Mal zufällig  auf dem Redaktionsflur persönlich trafen, waren sie zunächst einige Schritte aneinander vorbei gegangen, weil jeder von seinem Telefonpartner eine andere Vorstellung gehabt hatte. Johannes hatte einen typischen Sesselpuper mit Birnen-Körper erwartet und Anselm war - wie er später zugab - von einem feingliedrigen, sensibel auftretenden Asketen im Gandhi-Look ausgegangen. Es war ja die erste Esoterikwelle durchs Land geschwappt.
  Als sie sich einander auf dem Flur zuwandten, wäre für andere kein Durchkommen mehr gewesen. Von Trotter überragte Johannes noch einmal um einen halben Kopf und sah aus wie Popeye zurück von der Streckbank. Aus kupfern behaarten sommersprossigen Unterarmen wuchsen Hände, die einen Schaufelbagger arbeitslos gemacht hätten. Sie umfassten die Hände von Johannes nun bis zu den Gelenken.
  Johannes, der sich stets etwas auf seine graphologischen Kenntnisse eingebildet hatte, musste im gleichen Moment da er schallend loslachte, an die kleine, makellos präzise Handschrift von den Notizzetteln denken, mit denen die Manuskripte gelegentlich von von Trotter zurückgekommen waren. Aber auch der lachte so herzhaft, weil er eine ähnlich widersprüchliche Assoziation vor Augen hatte. Wer konnte denn ahnen, dass so ein vollbärtiger, langhaariger zwei Zentner schwerer Seeräuber-Typ eine so einfühlsame Serie über Kinder in Deutschland geschrieben hatte.
  Es war klar, dass sie sich auf den ersten Blick mochten. Dass es eine Männerfreundschaft auf den ersten Blick wurde, hätte Johannes - normaler Weise mehr als misstrauisch - vermutlich versucht zu verhindern. Er war keiner, der sich gleich duzte, der sich sofort auf ein Bier verabredete oder dabei für das kommende Wochenende schon ein privates Essen mit den Ehefrauen verabredete. Von Trotter strahlte diese soziale Kompetenz aus, die jeglichen unterbewussten Widerstand zum sofortigen Erliegen brachte.
  Beim dritten Bier hatten sie sich im Stenogramm gegenseitig das geschildert, was das Leben ihnen bisher beschert hatte und wo es sie hinführen sollte. Es gab derart starke persönliche Kongruenzen, dass Johannes sich auch nicht scheute, das Drama mit dem bislang nicht erfüllten Kinderwunsch zu schildern. Die Trotters hatten schon eine Tochter...
 
  Ulrike von Trotter und Esther hatten von der ersten Sekunde die gleiche Wellenlänge. Spontan stellte sich irgendwie exakt jenes Gefühl ein, dass sie  nur mit Geschwistern gehabt  hatten.
  Anselm hatte für ein so kurzes Kennen ein merkwürdig intimes Gastgeschenk mitgebracht, aber da er so ein großartiger Erzähler war, bekam es eine transzendentale Dimension, die ein Leben lang halten sollte:
  Bei dem Geschenk handelte es sich um eine getrocknete dreipolige Frucht oder Nuss, die so mit gefärbten Knöchelchen und Bast verziert war, dass die Vorstellung von einem schwarzen Babypüppchen mit Bastrock und Kulleraugen entstand.
    Anselm war im vergangenen Herbst mit den Turkana, einem bisweilen nomadisierenden Stamm von Rinderhirten und Fischern, am Ufer des ehemaligen Rudolfsees (heute Lake Turkana) im Norden Kenias entlang gezogen. Er berichtete von ihren Kühen, die sich angewöhnt hatten am Ufer des Sees bis zu zwei Meter tief tauchend zu grasen. Von den spirituellen Fähigkeiten dieses Stammes und von einem Jesuiten-Pater, der mit ihnen lebte, aber keine besonderen Anstrengungen unternahm, sie zu missionieren. Jener versuchte den Einklang mit der Natur, in dem die Turkana lebten, lediglich ins Verhältnis zu seinem Gott zu bringen und überschritt dabei die eine oder andere Grenze zur Naturreligion. Unter anderem, in dem er auf die Wirksamkeit der Babyfetische schwor, die die Turkanamädchen an einem geflochtenen Bastfaden, den sie - durch Scham und Pofalte gezogen - am Steiß befestigt trugen. Um so einen Babyfetisch handelte es sich bei dem Mitbringsel.
  Die laut ausgemalte Vorstellung, Esther würde künftig mit dem Babyfetisch an ihrem prallen Hinterteil herumlaufen, verursachte vor allem bei den beiden Männern Heiterkeit, aber als Anselm den Fetisch am Wohnzimmerschrank befestigte, herrschte doch für einen Moment eine Art spirituelles Schweigen...
  Der Agnostiker in Johannes fand eine einfache Erklärung für das, was geschah, kurz nachdem Anselm den Babyfetisch aufgehängt hatte:
  Befreit vom Zeugenmüssen, entspannter, nun wieder sinnlich ausgerichteter Sex in einer neuen Umgebung und eine späte Reaktion auf die Pertubation hatten dafür gesorgt, dass einer seiner lahmarschigen Samen eine Eizelle von Esther erwischt hatte.  Der Fetisch war lediglich eine der klassischen Koinzidenzen,  die gerne von Parapsychologen als Belege für übernatürliche Vorkommnisse - also PSI-Phänomene - gesammelt wurden. 
  Je länger die in jeder Beziehung ungewöhnliche Schwangerschaft von Esther jedoch dauerte, desto häufiger wurde vor allem sein unterbewusstes Denken von einer Mischung aus Spiritismus und Transzendentalem beherrscht. Er nannte das bei sich den "Rosemary's-Baby-Effekt". Roman Polanski hatte ja in seinem Film über die Zeugung des Teufels die suggestiven Rezeptoren selbst unempfänglicher Menschen so lange gekonnt strapaziert, dass auch die dann auf seinen Spuk hereinfielen.
  Johannes war vom Charakter her ein Planer und Vorausdenker, den so schnell nichts aus der Bahn warf. Die nicht mehr erwartete Schwangerschaft Esthers bereitete ihm allerdings nicht nur Freude. Anselm und er hatten sich für den Mai und Juni eine umfangreiche selbst produzierte Reportagen-Reise vorgenommen und die Storys schon vorab verkauft, um von vornherein kalkulatorisch auf der sicheren Seite zu sein:
  Mehrere Themen auf dem indischen Subkontinent und dann von Kaschmir aus mit einem Jeep über die Pässe nach Ladakh zur Initiirung eines Rinpoches, eines inkarnierten Lamas der buddhistischen Rotkappen. Das waren keine Dinge, die man einfach absagen konnte - und wollte. Aber dann kam bei Esther der Verdacht auf, sie habe - nachdem der behandelnde Gynäkologe (der mit dem Pertubationsbefund) die Schwangerschaft bis über die zwölfte Woche als Hormonstörungen angezweifelt hatte - sie hätte auch noch in dieser Zeit Röteln gehabt.
  Für die praktizierende Katholikin Esther waren Überlegungen zu einem Schwangeschaftsabbruch auch unter diesen Vorzeichen nicht nur funktionell, aber sie reagierte praktisch und im festen Glauben als sie den flatternden Johannes quasi auf die nicht ungefährliche Reise mit  Anselm (weg)schickte. Sie würde das Kind austragen.
  Und dann wurde Martha am Morgen zum Heiligen Abend geboren. Johannes war klar, dass er wieder - wie bei Schuberts Winterreise - einem neuen Wegweiser zu folgen hatte. Ob er wollte oder nicht - er musste die Zeichen erkennen.
  Als seine Tochter Martha volljährig wurde, schrieb er ihr die folgende Weihnachtsgeschichte, weil er in einem persönlichen Gespräch nie in der Lage gewesen wäre, ihr die damaligen Gefühle zu beschreiben:

Wie das Christkind kam...
Weihnachten 1979

  Die Straße, die sonst so laut war und voller Leben, schien in staubiger, trockener Kälte erstarrt. Es würde wieder einmal - wie so oft in den letzten Jahren - keine weiße Weihnacht geben. Aber dem Paar, das da inmitten der Münchner Altstadt lebte, war das egal. Für beide hatte das Warten auf das Christkind - obwohl ja schon über dreißig - diesmal eine ganz besonders intensive Spannung. Und vielleicht gerade weil die Straße gemessen an den bevorstehenden Feiertagen die ganze Nacht so unnatürlich ruhig gewesen war, hatten sie eher unruhig geschlafen - wenn überhaupt...
  Etwas bahnt sich da an. Der Mann lag mit offenen Augen auf dem Rücken und starrte zu der hohen Stuckdecke hinauf. Die bevorstehende Veränderung beschäftigte ihn schon seit einigen Monaten. Er würde keine Risiken mehr eingehen können wie bei der Expedition im Frühsommer. Und ob die Wohnung in diesem millieugeschwängerten Viertel mit seinen Schwulen- und Lesben-Bars dann noch tragbar sein würde? Sie zu erwerben, war eine spontane Entscheidung gewesen , als die Gynäkologen das niederschmetternde Urteil gefällt hatten, dass ihre Ehe kinderlos bleiben würde. Auf jeden Fall hatte er schon mal die beruflichen Weichen auf sichere  Gleise gestellt. Er hatte sich auch schon vorher nicht vor der Verantwortung gedrückt, aber jetzt würde sie eine ganz  neue Dimension bekommen. Er würde alleine für alles aufkommen müssen. Diese Vorstellung schreckte ihn weniger, als die Furcht wie s i e damit fertig werden würde, auf einmal von ihm abhängig zu sein. Sie, die so erfolgreich und gerne die ihr anvertrauten Buch- und Schallplattenläden geführt hatte, die unabhängig und emanzipiert sein wollte...
  Liebevoll schaute er zu dem Gewühl aus Kissen und Decken hinüber, in dem ihre Gestalt nur zu erahnen war. Wie gelassen sie gewesen war in letzter Zeit. Gar nicht mehr das Springteufelchen, dass sich so herrlich über ihre "Scheissläden" aufregen konnte. Sie wollte noch nicht einmal über Gehaltsfortzahlungen oder Abfindungen streiten. Konsequent wie bei allen Entscheidungen hatte sie für sich konstatiert:
  Jetzt beginnt ein neues Leben - in doppelter Bedeutung der Worte. Ob sie wohl wach war, und ob ihre Grübeleien den seinen ähnelten?

  Dann war er wohl doch noch eingeschlafen. Jedenfalls schreckte er plötzlich hoch, als er ihre kleine Silhouette im hell erleuchteten Rechteck der offenen Schlafzimmertür stehen sah. Irre, was sie in diesen Monaten für glänzendes Haar bekommen hatte:
  "Ich glaub' , wir sollten uns jetzt mal langsam auf den Weg machen."
  "Ja, verdammt nochmal, warum hast du mich denn nicht geweckt?"
Er wollte aus dem Bett springen, verhedderte sich aber in ihrem Deckenberg und wäre fast unsanft auf das Parkett gekracht. Ganz ruhig! Nimm dir ein Beispiel an ihr! Versuchte er seinen Adrenalinschub mit der inneren Stimme zu kontrollieren. Er sprang in die erstbeste Hose, streifte ein T-Shirt über, zwängte seine Füße  in Cowboystiefel und griff nach einem überdimensionierten, selbstgestrickten Pullover.
  Na bravo! Die Leute im Krankenhaus würden nicht gerade den seriösesten Weihnachtseindruck von ihm bekommen. Egal. So stürzte er aus der Wohnung. Doch kaum war die schwere Eingangstür unziemlich laut für diese frühmorgendliche Stunde hinter ihm zu gekracht, war ihm klar, er würde nicht weit kommen. Ohne Schlüssel und Brieftasche...
  Er läutete Sturm, hämmerte an die Tür. Oh mein Gott! Warum macht sie nicht auf? Hoffentlich ist noch nichts passiert. Nach schier endlosen Minuten hörte er den erlösenden Türsummer. Oben stand sie, sich ätzend ruhig die prachtvollen Haare bürstend. Nur sie nicht mit deiner Hektik anstecken! Also ganz ruhig an ihr vorbei.
  "Ich hol' nur geschwind den Autoschlüssel Mäuschen. Bleib ganz ruhig."
  Hinter dem Treppenabsatz aus ihrem Blickwinkel verschwunden, raste er wieder fünf Stufen auf einmal nehmend auf die immer noch ausgestorbenen Straße hinaus. Gehetzt starrte er nach rechts, dann nach links. Wo hatte er das verdammte Auto nur geparkt? Er war doch noch am Vorabend so oft um den Block gekreist, dass er für alle Fälle möglichst nahe am Haus einen Parkplatz haben würde. Aber da stand die Karre nicht. War das nicht doch  vorgestern gewesen? Stimmt. Er hatte sich ja noch so aufgeregt, dass er schließlich zwei Blocks weiter im Bereich einer Baustelle geparkt hatte. Also sprintete er los. Außer Atem kam er in der Nebenstraße an, aber da war weder Baustelle noch Auto. So schnell waren die doch noch nie mit Bauen fertig geworden, und wenn sie den Wagen nun abgeschleppt hatten? Wenn es doch schon länger her gewesen war? Himmel, viel Zeit war nun nicht mehr zu verlieren. Also doch ein Taxi. Er hastete zurück. Trotz der bitteren Kälte war er jetzt in Schweiß gebadet , aber Lunge und Kehle brannten  von dem eisigen Smog. Gleichzeitig kroch eine Schreckenskälte in seine Glieder. Sicherheitshalber hatte er auf dem Rückweg der Block in umgekehrter  Richtung umrundet. Als er jetzt wieder vor der Haustür stand, hatte jemand seinen Wagen direkt schräg davor auf der anderen Straßenseite geparkt. Ja, die Nerven!

  Also wieder die Treppe hoch gehetzt und die Tür aufgeschlossen. Wo war die Frau nur? Keine Tasche gepackt, nicht fertig angezogen im Wohnzimmer harrend...
  "Schatz, wo bist du?"
  "Hier, im Badezimmer!"
  "Wie oft schon?"
 "Alle fünf Minuten."
 "Und dann kämmst du dich immer noch in aller Seelenruhe?"
 "Ist doch nicht weit!"
  "Jetzt komm schon - aber ganz vorsichtig!"

  Von allen trostlosen Orten, um auf Heiligabend einzustimmen, dürfte sich ein altes Krankenhaus gleich nach einem neuen Gefängnis als die trostloseste aller Alternativen einreihen. Seine Frau war längst inmitten eines Pulks stützender Schwestern und beruhigender Assistenzärzte verschwunden. Man hatte ihn in einen grünen OP-Kittel samt Käppi stecken wollen. Nein, er wollte lieber doch nicht dabei sein.
  "Ich kann nicht ertragen, wenn sie schmerzen hat", raunte er dem enttäuschten Professor zu, doch der durchschaute ihn sofort und lächelte mitleidig. Hätte er doch voraussagen können, dass die Tortur des Wartens auf einem zugig kalten Flur schlimmer sein würde...
  Und so wurde es denn auch. Es dauerte. Zwei bereits nadelnde Äste mit Plastik-Christbaumkugeln und verbogenen Goldgirlanden waren das einzige, was beim endlosen hin und her Marschieren an die mythologische Geburt des Herrn erinnerte. Hin und wieder segelte eine Nonne mit steif gestärkter Doppeldecker-Haube durch die Station - nicht ohne zu versäumen, dem herum stiefelnden  vermeintlichen Stadtstreicher einen Blick nächstenchristlicher Liebe gepaart mit vorweihnachtlicher Missbilligung zuzuwerfen. Bisweilen war der Wartende versucht, hinter die sich im Eifer des Personals ständig öffnenden und wieder zu rauschenden Automatik-Türen zu spitzen, um zu fragen, wie lang es denn wohl noch dauern könnte. Es dauerte.
  Endlich ward dem Manne die Zeit zu lang und er erlag dem unwiderstehlichen Charme eines voll gequalmten Wartezimmers, in dem nur ein weiterer Delinquent derselben Idee verfallen war - auf das Christkind zu warten.
  "Das Erste?" fragte der.
  "Bei Ihnen auch?" forschte der Neuankömmling?"
  "Na, das Sibate!"
  "Und dann rauchen Sie vor Aufregung immer noch eine nach der anderen? Ich habe wegen meiner Frau aufgehört. Aus Solidarität gewisser Maßen, weil sie so gerne geraucht hat und nun aufhören musste. Aber natürlich auch wegen des Passivrauchens."
  " I  hab' a schon siemmoi aufghört!"
  " Und sind Sie deshalb nicht dabei, weil Sie dann vor Aufregung an Nikotinmangel eingehen würden?"
  " Ja, weil's halt immer das gleiche is."
  "Das klingt aber abgebrüht und gleichgültig."
  "Na, des verstengas foisch. Jedsmoi hob i den Kittl scho o'ghabt, weil i halt dabei sei woit, oba dann ham's mi jedsmoi aussitrogn müassn, bevorr's übahauptz losganga is! Heit Nacht hot mei Frau  glei g'sagt i soll heruasbleib'n. S'gangat schneller ohne mi. Oba Sie? Warum san Sie net drinna?"
  "Ich kann nicht sehen, wenn Sie Schmerzen hat."
  " A so!"
  Der andere nutzte seine ganze Erfahrung als vielfach werdender und gewordener Vater, um die angespannte Stimmung zu entkrampfen, aber so ganz wohl war ihm dann auch nicht. Schließlich harrte er ja auch schon drei Stunden länger aus als der Neuling, obwohl er zuvor beteuert hatte, bei jedem neuen Kind ginge es schneller. Und so war er einigermaßen enttäuscht, als eine Schwester den Kopf hereinsteckte und sagte:
  "Herr Goerz, Sie können jetzt zu Ihrer Frau."
Nicht: "Gratuliere, Sie haben ein..." Wie im Film. Ob etwas passiert war? Plötzlich traten die Horrortage wieder in Erinnerung. Das mit den Röteln und den falsch berechneten Laborwerten. Die Tage der bangen Entscheidung, ob nicht ein Schwangerschaftsabbruch ratsamer gewesen wäre. Und schließlich jedoch der Mut machende Virologie-Professor, der seiner Sache sicher war, dass Titerwerte falsch  nach unterschiedlichen Methoden ermittelt worden waren.
  "Bekommen Sie das Kind!"
  Was, wenn nun doch etwas nicht stimmte? Aber dann sah er seine Frau. Sie sah erschöpft aber glücklich aus. Und der Professor sagte:
  "Gratuliere Sie haben ein Mädchen! Es hat sich offenbar im  Bauch Ihrer Frau besonders wohl gefühlt, denn es wollte nicht raus. Wie mussten mit der Glocke ein wenig nachhelfen. Deshalb liegt es nebenan im Wärmekasten - also nicht erschrecken! Gehen Sie nur zu ihm. Es wird ein glückliches Kind. Viele sagen, es sei nicht schön, an Heiligabend auf die Welt zu kommen. Aber die Menschen denken dabei immer nur an die Geschenke. Sie übersehen, dass an so einem Geburtstag alle Welt in festlicher Grundstimmung ist. Und später, wenn sie dann mal so richtig feiert, hat sie anschließen zwei freie Tage, um ihren Kater auszukurieren."
  Sprach's, und schob den staunenden Vater ins Nebenzimmer. Da lag es, ein kleines rosa Marzipan-Geschöpf, leise quäkend und sich rekelnd. Durch eines der Löcher in dem Kasten konnte der frisch gebackene Vater hinein fassen, die pummeligen Ärmchen tätscheln und mit dem Zeigefinger nach den winzigen Händchen stupsen. Und siehe da, schon klammerte sich die Kleine daran fest.  Der 24. Dezember 1979 war ein von der Sonne durchfluteter Tag, aber bitterkalt. Manch einer an diesem Vormittag hat sich bestimmt gewundert, weshalb dieses Riesenbaby von einem Mann nicht fror. Er spazierte mit dem Lächeln eines Honigkuchenpferdes auf dem übermüdeten Gesicht über den weihnachtlichen Viktualienmarkt und kaufte Dinge, die er noch vor Tagen als fürchterlichen Kitsch bezeichnet hätte. Obwohl er nichts getrunken hatte, konnte er leicht den Eindruck machen, er habe schon einige Glühwein intus. Aber die Leute konnten ja auch nicht wissen, dass er schon in aller Frühe das Christkind gesehen hatte. Es sei denn, er hätte ihnen schon davon erzählt. Ja, das waren gewiss nicht wenige gewesen.


Donnerstag, 20. Dezember 2012

Friedland

Der erste Chef meiner Frau hatte einen Ordner auf dessen Rücken das Folgende stand:
"Ja, mach nur einen Plan!"
Die älteren unter meinen Lesern werden sich noch erinnern, dass es solche Ordnungshüter aus Pappe und Metall mit einem von Leitz patentierten meist alsbald verbogenen Schnellspann-Bügel innen gab, in dem man gelochte Seiten abheften konnte... Also, in  so einem Ordner sammelte der Mann alle nicht realisierten Ideen und Projekte. Ich fand das eine wunderschöne Idee, als ich ihn dann später kennen und schätzen gelernt hatte.

Bei mir hieß die Nachahmung einer derartigen Ablage dann "Friedland", was - meinem Wesen gemäß - viel pessimistischer und zynischer klang, weil Namensvorbild ja das traurige "Auffanglager Friedland" war, das alle Hoffnungsvollen durchlaufen mussten, die von hinter der Mauer oder dem "Eisernen Vorhang" in die BRD rüber gemacht hatten...

Wenn es eines Grundes bedurfte, die Digitalisierung zu bejubeln, dann ist es allein der Umstand, dass all meine gescheiterten Pläne, meine überproportionalen Ideen und Hirngespinste hinter dem Klick auf dem gelben Ordner-Icon mit dem immer noch geltenden Namen "Friedland" verschwunden sind. Ich will lieber nicht gucken, aber mittlerweile dürfte sich da eine Datenmenge angesammelt haben, die spielend an die der ersten Mondlandungs-Mission heran gereicht hätte.

Nach langer Pause muss in diesen Ordner wieder was hinein: Die Pause war dadurch entstanden, dass ich mir selber die Vorgabe gemacht habe, wer keine Träume und Ziele mehr habe, solle auch keine Pläne mehr machen. Hätte ich dieses gedankliche Exil doch bloß nicht verlassen!

Weil ich den Sommer in München verbringen musste und deshalb mein Fischerboot nicht nutzen konnte, hielt ich es für eine gute Idee, Pläne für eine herbstliche Fang-Saison zu machen. Das Boot ging für teures Geld in die Werft, denn ich wollte endlich mal wie die anderen Kumpel Totani fangen - den für mich schmackhaftesten Kopffüßer des Mittelmeeres...

Dreimal darf jeder Leser raten, wie oft ich in diesem Herbst ausgelaufen bin. Richtig! Nicht einmal! Entweder war das Licht zu klar, oder es herrschten Windstärken, die meine Nussschale bei Schleppfahrt aufs offenen Meer hinaus getrieben hätten. Davon einmal abgesehen, dass der Seewetterbericht so häufig mare mosso - also höchsten Wellengang - angekündigt hatte, wie selten im hier normalerweise eher stabilen Herbst.

Mein Frust, keine Totani selbst gefangen zu haben, könnte Euch vielleicht Lust bereiten und mir mal wieder hohe Zugriffszahlen in der Seitenstatistik meines Blogs bescheren. Deren Kurven schlagen nämlich immer dann am höchsten aus, wenn mein roter Hummer erscheint, und ich ein neues Koch-Experiment zum Besten gebe.
Also hier ist er: Ich konnte es nicht länger aushalten und habe gestern beim Fisch-Tandler Totani - gekauft.

Totani ripieno in umido
Gefüllte Totani im eigenen Saft

Für alle Besserschmecker hier eine kleine Vorbemerkung. Vor allem für diejenigen, die meinen, bei den diversen Mollusken, die der Volksmund als "Tintenfische" bezeichnet. gäbe es keine Geschmacksunterschiede, weil die Weichtier-Eiweiß-Substanz  in deren verzehrbaren Körpern sich ja im Prinzip immer gleiche.
Meine herausgeschmeckten Unterschiede möchte ich nicht als Dogma, sondern als "persönlich" verstanden wissen:
Der Polpo mit seinen dicken, bei richtigem Kochen, Schwamm weichen Fühlern, der hier gerne als Salat angerichtet wird, schmeckt nussig und harmoniert am besten mit nicht erhitztem Extra Vergine. Die Portugiesen zum Beispiel rösten ihn am offenen Feuer bis er verschmort wie verbrannter Gummi und auch so schmeckt (Lulas)...
Die Kalmare, die hier meist als Calamari frittiert oder gegrillt auf dem Teller landen, brauchen diese Hitze und die damit verbundenen Aromen unbedingt, denn ihr Eigengeschmack ist allenfalls ein sanfter Träger. Die Asiaten bereiten sie deshalb scharf gebraten im Wok mit Soja, Chilli und Koriander zu.
Die Sepia (siehe frühere Posts) nimmt durch ihre Tinte einen Sonderstatus ein, aber verändert ihren Geschmack je nach der von ihrer Größe abhängigen Zubereitungsart. Ungeputzte Seppioline, die fangfrisch in ihrer Tinte schwimmen, müssen nur leicht geschmort werden, um zur Polenta oder frischer Pasta als einzigartige Delikatesse dargereicht zu werden, während große Exemplare ohne Tinte ein nussiges Meeresfrüchte-Schnitzel ergeben.
Auf den Todarodus sagittatus, wie der Totano zoologisch heißt, stehe ich allein schon deshalb, weil er so appetitlich rotbraun daliegt und schnell geputzt vielseitig zubereitet werden kann. Eine einfache Strand-Kneipe auf Elba hatte sich einst beispielsweise darauf spezialisiert, nur die Körper von großen Exemplaren auf spezielle Weise einzuritzen und sie dann in einer feuerfesten Form ohne weitere Zutaten mit in den  mit Holz befeuerten Pizza-Ofen zu schieben. Wenn diese Schnitte wie weiße Wunden aufbrachen, war das ein Zeichen, dass der Totano gar war. Dann kam auf sein noch  heißes, zischendes Fleisch, frisches Öl, Petersilie, Peperoncino, Limonensaft  und grobes Meersalz. Sensationell!!!  Da reicht selbst mein heutiges Rezept nicht heran, aber dafür kann es ein Hingucker mit Gourmet-Potenzial sein, weil ich es grundsätzlich vom  hiesigen Traditionsrezept abweichend zubereite.

Zutaten für zwei Personen:
Acht Totani mit einer Balg-Länge von etwa acht Zentimetern. Zwei große für Salat geeignete Kartoffeln. Eine große Bio-Möhre, eine Ingwerwurzel in Daumengröße, eine junge Zwiebel, ein Teelöffel gestrichen mit Peperoncino, zwei dicke Zehen roten Knoblauchs, eine Limone, ordentliches Extra Vergine (muss wegen des Erhitzens kein Luxusprodukt sein),  grobes Meersalz, entweder frische Kräuter nach Gusto oder Fine Herbes de la Provence. Für den umido später zwei große zerhackte Fleischtomaten und zwei Tassen Tiefkühl-Erbsen.

Zubereitung: 
Den Totani die Köpfe abschneiden, die Bälge ordentlich ausnehmen und waschen, die Köpfe von Augen und Schnäbeln befreien. Die Fangarme werden dann klein gehackt, und der dicke Kranz vom Kopf wird später als Beiwerk mitgeschmort. Kartoffeln, Möhre, Ingwer, Zwiebeln, Knoblauch per Hand  in gleich große Stückchen zerhacken wie die Fangarme. Alles zu den Fangarmen in die Schüssel geben, mit ordentlich Öl übergießen, Peperoncino, Kräuter und Limonensaft hinzugeben und alles kräftig vermengen. Ein paar Minuten durchziehen lassen, dann einen gestrichenen Esslöffel braunen Zucker und zwei gestrichene Teelöffel Meersalz hinzugeben und erneut durchmengen. Sich von der Flüssigkeit, die sich schnell bildet, nicht irritieren lassen. Dann mit einem geeignet großen Löffel das Einfüllen und Stopfen der Bälge beginnen. Sie müssen richtig prall sein, ehe sie zickzack durchstochen mit Zahnstochern verschlossen werden.
Die gefüllten Totani  ohne weiteres Öl in eine tiefe Schmor- oder Wok-Pfanne legen und den Rest der Fülle mit der angesammelten Flüssigkeit drüber geben. Dann bei kleiner Flamme den Deckel drauf!
Innerhalb von kurzer Zeit bildet sich soviel Flüssigkeit, dass sie mit einer Kelle abgeschöpft werden muss. Diese Flüssigkeit wird in einem geeigneten Gefäß bereit gehalten. Ist etwa die Menge einer großen Kaffeetasse abgeschöpft, wird ein Glas des Rotweins zum Ausgleich in die Pfanne  gegeben, den man auch zum Essen gewählt hat (kein Billig-Rotspon!!!). Erst dann beginnt unter sachtem Zuschütten der abgeschöpften Flüssigkeit der Reduzierungsvorgang bei höherer Temperatur. Beim Kochen dabei bleiben und die Totani immer wieder wenden.
Als Gar-Richtzeit wären 45 Minuten angemessen, aber das richtige Gefühl muss man selbst entwickeln. Lässt sich aus einem Probestück der Zahnstocher entfernen, ohne dass der Balg die Form verändert oder gar reißt, ist auch die richtige Sämigkeit für das Hinzugeben der Tomatenwürfel und der Piselli erreicht. Der kleine Kälteschock verhindert auch, dass die Bälge durch Überhitzen reißen. Dann kann der Herd ausgemacht werden, damit Tomaten und Erbsen ihre Farbe nicht verlieren. Das Auge isst schließlich mit!
Für eine Vorspeise reicht als Beigabe für den umido frisches Brot. Als Hauptgang würde ich die Totani auf  angerösteter Polenta servieren. Übrigens der Ober-Gag ist das, was ich den "Saumagen-Effekt" zum Anrichten nenne: Die Totani lassen sich nun nämlich auch in feine Scheiben  schneiden, ohne auseinander zu fallen...

Buon appetito!

Sonntag, 16. Dezember 2012

Ein Stern, der keinen Namen trägt

Das Schöne an der ligurischen Weihnachtszeit: Sie richtet sich mit ihren öffentlichen Dekorationen ohne langes kitschiges Vorspiel strikt nach dem Papst. Zumindest hier auf der Burg und im Capo Luogo unter uns flimmern vorher höchstens ganz vereinzelt Privat-Fenster. Wenn der Papst durch "Entzünden" des Weihnachtsbaumes auf dem Petersplatz am Samstag vor dem dritten Advent Weihnachten "offiziell eröffnet", hat auch Signora Giardini - unsere Gemeindegärtnerin - heimlich ihre Vorkehrungen abgeschlossen und legt den Schalter um. Am Aufstieg zu den Gassen leuchtet ein "Auguri" in Schreibschrift und inmitten unserer Piazza hängt ganz für uns allein ein riesiger Blinke-Stern.


So stolz war sie über die neuerliche Erleuchtung, dass sie gleich ihre "Gartenschwester im Geiste", die Zweitbeste, herausgeklingelt hat, um mit ihr das Wunder zu teilen.Ich hatte aber den noch besseren Überblick, denn ich konnte zur selben Zeit von den Wohnzimmer-Fenstern oben erleben, wie auf den Bergkuppen rings herum die Nachbardörfer wie auf ein geheimes Zeichen auch ihre Weihnachtsbäume und Bogen-Girlanden in Funktion setzten. Aber diese Rundum-Stimmung von Berg-Weihnacht dauerte nur ein paar Minuten, dann war sie in dem dick aufsteigenden Nebel verschwunden.

All das alte Gemäuer leuchtete nur noch geisterhaft pastellig im Zucken des sich von innen vergrößernden Sternes auf. Dazu diese geisterhafte Stille. Das sind diese Ehrfurcht heischenden Momente, in denen wir hier auf dem Burgberg der übrigen Welt gänzlich entrückt scheinen. Umnebelt kommen einem da ganz eigentümliche Gedanken:

Denn Dein ist die Kraft und die Herrlichkeit! Schon Graham Greene konterkarierte diese Quintessenz des Seins  aus der Passion Jesu Christi in seinem Roman "Power and Glory"

Wofür ist Gottes Sohn, dessen Geburt auch Agnostiker wie ich in ein paar Tagen feiern werden, letztendlich gestorben, wenn wir Menschen einerseits solche Stimmungen wahrnehmen können und sentimental werden, während wir abseits vom privaten Frieden zulassen, dass Exzesse der Gewalt verübt werden?

Da war zur selben Zeit der vorweihnachtlichen Erleuchtung draußen etwas Schreckliches geschehen. In den Fernseh-Nachrichten  ist der eben noch strahlende Wahlsieger Obama mit Tränen in den Augen und stockender Stimme als Präsident einer Nation zu sehen, die wieder einmal ein unfassbares Massaker an Schulkindern zu betrauern hat. Die weltweite Betroffenheit - auch unsere persönliche - ist das ganze Advent-Wochenende das Thema in den Medien. Da rückt Weihnachten in unserer westlichen Welt ganz in den Hintergrund. Aber auch eine andere berechtigte Frage:

Wieso erringen die seit Wochen und Monaten in Syrien und im Palästina gewaltsame Tode sterbenden  Kinder nicht die gleiche breite und betroffene Aufmerksamkeit der Medien? Gibt es am Ende einen "qualitativen" Unterschied zwischen einem durchgeknallten Amok-Twen oder außer Rand und Band geratenen Staatsmächten, die auf eigene Bürger ballern lassen?

Die Kraft und die Herrlichkeit gerät - wie ich an mir selbst täglich erfahre - im Alter zum Duell von Angst und Endlichkeit. Mein Gefühl wird immer stärker, dass die Menschheit beschleunigt dazu beiträgt, dass unsere Erde vor ihrem Schicksal in Äonen ein Stern sein wird, der keinen Namen trägt...

Donnerstag, 13. Dezember 2012

Zahnlos al dente

Manchmal zermartert sich der Blogger das Hirn, was er als nächstes schreiben soll, und dann beißt sich so eine Geschichte quasi am Burgbriefe-Schreiber fest. Wobei ich mich fragen sollte, wie das bei der heutigen Thematik im wahrsten Sinne des Wortes hätte passieren sollen...

Hin und wieder brechen die Zweitbeste und ich spontan ins Hinterland auf, um vielleicht kulinarische Abenteuer zu erleben. Seit wir von der drohenden Altersarmut gelesen haben, machen wir das nicht mehr gar so oft, und wir legen mehr Gewicht auf den Abenteuer-Aspekt. Was heißen soll, wir vermeiden bewusst bereits bewährte, teurere Fress-Adressen und marschieren mal in eine Trattoria, die uns schon vom äußeren Erscheinungsbild keine gehobene Gastronomie signalisiert. 

- Dieser Tage geschehen in Pieve di Teco: Einem Örtchen, das vor der Krise um diese Jahreszeit ein wahrhaftiges Weihnachtsmärchen war. Man muss sich mal vorstellen, dass wir am hellichten Tag die berühmte Kirche mit den Tromp-L'Oeil-Effekten allein besichtigen, das Programm des Commedia-del-Arte-Theaters Salvini studieren und unter den Doppel-Arkaden der Hauptstraße flanieren konnten, ohne einer Menschen-Seele (außerhalb vorbeifahrender Autos) zu begegnen. Gut, es war Mittagszeit und obendrein schon ein wenig kalt. Aber in den offenen Bars und Restaurants war außer Personal auch niemand. Nur noch ein Teil der Kolonnaden, war mit Leuchtketten dekoriert, und nur jeder zweite von der Gemeinde in die Bögen vor den Geschäften aufgestellte Weihnachtsbaum war geschmückt.

Deshalb stürmten wir frustriert die erste Trattoria, in der wir im Hintergrund Leute an einem Tisch essen sahen. Ansonsten war auch dieses Etablissement leer. Wir hatten die freie Auswahl unter einem Dutzend eingedeckter Tische und entschieden uns für einen direkt an der Heizung. Allerdings war die nicht an.

Das Menü wurde uns mündlich vorgetragen. Zwischenzeitlich hatten wir als "erfahrene Scouts im kulinarischen Niemandsland" aber mitbekommen, dass die drei am anderen Tisch zwei Amerikaner waren, die mit einem Einheimischen Geschäftliches diskutierten. Zweierlei beruhigte uns: Ein Italiener würde Geschäftsfreunde niemals in ein Restaurant führen, indem man nicht halbwegs anständig essen kann. Und zweitens hauten sie rein, als wäre dies ihre letzte Mahlzeit ...

Wir hatten die Wahl zwischen Spaghetti Carbonara und Troffie al Pesto, gefolgt von entweder einem Braciole - also Schweinskotelett -  beziehungsweise Kalbsleber-Scheiben in Salbei-Butter. Als Primo nahmen wir die Troffie in der Hoffnung die Teigspindeln stammten - wenn schon nicht selbst gemacht - aus der Manufaktur der einst legendären Dorf-Pasticeria...

Als die Troffie kamen, waren wir die einzigen Gäste. Der Pesto roch sehr intensiv, war aber recht sparsam portioniert, so dass wir ihn mit dem hervorragenden Öl aus einer Plastik-Menagère verlängerten. Zwar waren die Troffie nicht selbstgemacht, aber der Pesto Genovese hatte einen derart prachtvollen und nussigen Basilikum-Geschmack, dass mir die Härte der Teigware gar nicht auffiel. Aber das war eben der Beginn des Dramas:

Die Zweitbeste hat seit jeher sehr empfindliche Kauwerkzeuge, während bösartige, frühere Expeditions-"Kameraden" von meinen gerne noch heute behaupten, sie könnten auch gerösteten Stacheldraht zermalmen, so lange dieser nur fein mit Sojasauce und grünem Koriander abgeschmeckt sei. 

Obwohl ich einen Mordshunger hatte, bot ich meiner Frau dennoch an, zu reklamieren. Aber sie schüttelte den Kopf und mümmelte tapfer weiter. Ich war schon einige Minuten mit meiner Portion fertig, während sie in etwa bei der inzwischen natürlich erkalteten Hälfte angelangt war. Da trat ein  Mann im Koch-Kittel in den Gastraum, um etwas aus dem Kühlregal zu holen.

Ich fragte ihn, ob er der Koch sei, und er nickte stumm. Als ich ihm erzählte, dass seine Troffie wohl eher molto molto al dente seien, nuschelte er etwas Unverständliches und zog sich anscheinend beleidigt zurück. Ich hingegen erstickte fast gleichzeitig an einem wahnwitzigen Lachanfall, weil ich versuchte, ihn mit der Serviette halbwegs zu dämpfen. Nun ist meine Stimme ja  leider nicht die leiseste, als ich der Zweitbesten den Grund verriet:

"Weißt du, weshalb die Troffie so sehr al dente waren? Der Koch hat keine Zähne!"

Dann kam der Secondo, der uns absolut überraschte. Die hauchdünnen Kalbsleber-Scheiben a la minute angebraten, waren stimmig mit der burro di salvia und stellten auch meine Frau beim Kauen vor keinerlei weitere Probleme. Und ich kann mich wirklich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal ein Schweinskotelett von derartiger Qualität vorgesetzt bekommen habe: rosa und saftig (eben nicht wässrig!) mit einem vom dosierten Einsatz des Grills erhöhten Fleischgeschmack. Der absolute Hammer aber waren die handgeschnitzten patate fritte: goldgelb, knusprig und mit  frischem Fett vorsichtig frittiert, waren sie ein  derartiges Geschmackserlebnis, dass wir  - trotz drohend weiter wachsendem Hüftgold - die ganze Riesenportion vertilgten..

Und dann tauchte auch der Koch wieder auf und fragte nach dem Rechten. 
Welch Wunder! Nun hatte er auf einmal Zähne und sprach zu unserer weiteren (meiner mir besonders peinlichen) Überraschung ein manierliches Deutsch mit leichtem Ossi-Tonfall. Leider sah ich nirgends ein Loch, in dem ich mich hätte verkriechen können.

Wie wir beim Espresso erfuhren, hatte er 20 Jahre in Sachsen-Anhalt gearbeitet, bevor er in die Heimat zurück gekehrt war...

Montag, 10. Dezember 2012

Il Cavaliere

Das drohende Scheitern der "Idee Europa" hat seit gestern ein neues aber altvertrautes Gesicht. 

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, in diesem Blog keine politischen Posts zu veröffentlichen, aber der gestrige Auftritt von Silvio Berlusconi - so en passant auf dem Trainingsgelände seines Fußball-Clubs AC Milan - hat mich wegen seiner Deutschenfeindlichkeit nicht nur empört, sondern macht mir nun auch eine Heidenangst. Wesentliche Aussagen, sind heute nämlich in der Presse bereits verharmlost wieder gegeben worden.

Er hat Mario Monti mit seinen tecnocrati nicht nur vorgeworfen, Italien in die größte Krise seit dem Krieg geführt zu haben, sondern sei auch angetreten, um das Vaterland auf Bitten seiner Gefolgschaft von der Deutschen Hegemonie zu befreien. Den Namen der Kanzlerin hat er dabei gar nicht genannt, sondern einen nicht deutlich verständlichen Begriff verwendet, der klang wie "germania logo". Das ließe sich so interpretieren wie: Europa das D-Zeichen (Auto-Nationalitätszeichen?) abzumontieren...

Der Populist und Medien-Zar weiß durch das Beispiel Griechenlands, dass mit dem zu schürenden Hass auf die Deutschen reichlich Stimmen zu gewinnen sind. Er ist zudem ein geradezu mit Teflon beschichteter Wortverbieger, dem es sogar gelänge, mit einer frisch verhängten Freiheitsstrafe von vier Jahren, bald wahlkämpfend durch die Provinzen zu ziehen. Er ist auch unverfroren, denn er weiß, das Wahlvolk hat ein kurzes Gedächtnis: 
Wer war bei der Einführung des Euros Ministerpräsident Italiens? Und wer war es wieder, als 2008 die bis heute andauernde Finanz- und Immobilien-Krise Italien zu einem hoch verschuldeten Kandidaten für den Rettungsschirm machte? - Der Giga-Bauunternehmer Silvio Berlusconi.

Mario Monti hat in den gerade mal einem Jahr, das seit seinem Amtsantritt vergangen ist, versucht, den von Berlusconi hinterlassenen Scherbenhaufen aufzuräumen. Er wollte das mit Fachleuten tun und nicht mit Berufspolitikern, was allein schon vielen der bestbezahlten Abgeordneten Europas sauer aufstieß.

Aktuell werden Berlusconi noch Steuerhinterziehung in Milliardenhöhe und Korrumpierung von Justizbeamten vorgeworfen. Mit seiner Taktik, Mario Monti quasi zum Rücktritt zu nötigen und dadurch noch weiter vorgezogene Neuwahlen zu erzwingen, könnte er wieder in eine Position geraten, in der seine Administration, bald weitere Verfolgungen seiner aktenkundigen Straftaten verhindert.

Wenn Mario Monti resigniert davon spricht, "der Sonnenkönig" habe ihn verlassen, zitiert er vielleicht noch aus Versehen den absolutistischen Herrschaftsanspruch des Oligarchen. Die Formel, diesen möglicherweise  zu erreichen, ist aber ebenso simpel wie perfide:

Der Steuerhinterzieher Berlusconi weiß zunächst schon einmal alle anderen Oligarchen seines Landes hinter sich, aber auch die seit jeher chronischen Steuer-Verweigerer auf dem Stiefel, die nach vorsichtigen Schätzungen bei annähernd 50 Prozent rangieren. Die Haus- und Grundbesitzer bekommt er mit dem Versprechen, die deutlich erhöhte Immobiliensteuer UMI wieder abzuschaffen, die die unübersichtliche und bisweilen ungerechte ICI ablösen sollte.

Mit dem avisierten Deutschenhass erreicht er auf seinen Blödel-Sendern mit den einseitig zu seinen Gusten gefärbten Nachrichten zwischen den Hirn degenerierenden Spiele-Shows auch viele der sogenannten kleinen Leute.

Berlusconi ist zudem ein Virtuose beim Einsatz von Computer gestützten Marktforschungsinstrumenten, die ihm wie keinem anderen Politiker Italiens in reichem und persönlichen Ausmaß zur Verfügung stehen. Es kann doch kein Zufall sein, dass mich ausgerechnet gestern Abend - also an einem Sonntag - eine junge Frau von einem Callcenter über meine Hör- und Sehgewohnheiten befragen wollte. Il Cavaliere, der Ritter, gibt seinem kaum gesattelten Pferd bereits die Sporen. 

Bei einer seiner Kanditaturen im vergangenen Jahrzehnt bekam ich sogar schon mal ein "persönliches Schreiben" von Berlusconi hier auf die Burg, in dem er mir caro amico klar machte, dass mir als Hausbesitzer doch wohl gar nichts anderes bliebe, als ihm seine Stimme zu geben. Da hatten seine Schergen im Raster wohl einen Fehler gemacht, indem sie sich auf Hausbesitz und codici fiscale beschränkt und nicht die Nationalität und das Wähler-Register überprüft hatten. Es blieb allerdings die Frage, wie war ich in diesen Raster mit meinen teilweise geschützten Daten hineingeraten?

Wer kann den Cavaliere in die Schranken weisen?
Der Hoffnungsträger der engagierten intellektuellen Mittelschicht, der Florentiner Bürgermeister Matteo Renzi (Jahrgang 75) konnte sich bei der Stichwahl der Demokraten nicht durchsetzen. Luigi Bersani, das politische Urgestein - hat als Spitzenkandidat  sofort gesagt, den Kurs von Monti fortzuführen. Noch wird ihm eine deutliche Mehrheit bei den anstehenden Parlamentswahlen prognostiziert. Der hemdsärmelig und bürgernah rüberkommende Zigarren-Freund kämpft gerne mit offenem Visier. - Wenn ihm da mal nicht eine Lanze des Cavaliere ins Auge fährt

Freitag, 7. Dezember 2012

Strisce

Wer sich als Ausländer eine geraume Zeit im italienischen Straßenverkehr tummelt, sollte bald zu Erkenntnis kommen, dass Straßenschilder mit Beschränkungen und sonstige Versuche fahrerischen Wildwuchs einzudämmen, von den Einheimischen zwar interessiert zur Kenntnis genommen, vielleicht sogar wohlwollend erörtert, letztendlich aber ignoriert werden. Allenfalls werden derartige Gebote als Orientierungshilfe akzeptiert.

Das erschien gerade uns Deutschen nicht immer so. Ich kann mich noch gut an die Zeiten erinnern, als unsere Eltern die Pseudeo-Chianti-Korbflaschen für die "italienischen Momente" daheim noch als zu betropfende Kerzenhalter reaktivierten. In jener weitestgehend noch Autostrada freien Zeit lauerten die Carabinieri oder Polizotti der Polizia Stradale - so genau weiß auch bis heute keiner von denen , wer gerade zuständig ist - hinter jeder unübersichtlichen Kurve darauf, ob so ein Trottel von nördlich der Alpen den durchgehenden weißen Strich in der Mitte überfuhr oder zumindest ihn mit den linken Reifen berührte. Dann gab es nämlich unverständliche Diskussionen und saftige Lira-Summen als Strafe; meist begleitet von der Geste, bei der Zeige- und Mittelfinger erst auf die Augen und dann auf den Strich gerichtet wurde.

So etwas prägt sich ein, und die heutige Generation Deutscher Italien-Fahrer zeichnet sich deshalb wohl gerne dadurch aus, dass sie besserwisserisch Schlangen züchtet, weil sie die 30 km im Bereich einer längst nicht mehr existenten Baustelle auf den Tacho-Strich genau einhält.

Mein wirklich bester italienischer Freund Maurizio fasst diese Eigenschaften bemerkenswert analytisch zusammen:
Wir Deutschen hätten zwar inzwischen gelernt,  in der Formula Una  und auf dem Moto tüchtig und gar meisterlich im Kreis herumzufahren, aber für die situationsbedingte Interpretation im Straßenverkehr hier fehle es uns einfach an Kreativität.

Als Beispiel einer besonderen Kreativität einheimischer Autofahrer führe ich dann immer gerne ein persönliches Erlebnis auf: 

Zwischen Pieve di Teco und Imperia gibt es einen kilometerlangen schnurgeraden gut beleuchteten Tunnel, in dem gleich zwei parallele Streifen zwischen  den beiden Fahrbahnen und erleuchtete 80km-Schilder alle zweihundert Meter den Eindruck erwecken könnten, dass Überholen hier nicht nur verboten, sondern auch gefährlich wäre. Das interessiert aber die Ungeduld der Herzen nicht. Einmal überholte also so ein Heißsporn eine Kette von etwa 20 Fahrzeugen in diesem Tunnel, der die Tücke einer Mulde hat, in der Scheinwerfer entgegenkommender Fahrzeuge bisweilen verschluckt werden. So war es auch in diesem Fall. Der Überholer quetschte zwei, drei Fahrzeuge vor mir quasi an die Tunnelwand, um dem frontalen Zusammenstoß auszuweichen. Alle waren wirklich in Lebensgefahr. Und wofür? Kurz hinter dem Tunnel gibt es eine Ampel, die eine lange Rot-Phase hat, und da stand der Mordgeselle. Ich bin normaler Weise keiner, der andere mittels seiner Körperfülle einschüchtert, aber diesmal stieg ich aus und rüttelte den Panda unter Beifallsgehupe seiner Landsleute kräftig hin und her. In einem der zur Seite gedrängten Fahrzeuge saßen vier Kinder - auf dem friedlichen Heimweg vom Weihnachtsmarkt in Pieve di Teco...

Nicht, dass wir Deutschen nun die vernunftbegabtesten Verkehrswesen sind: Ich denke da an die Heckscheiben-Aufkleber "Ich bremse auch für Tiere", den ganz besonders Geschmackslose dann mit "auch für Senioren" verfälscht haben. Aber kann man sich vorstellen, dass diese Geschmacklosigkeit hier in Italien sogar Sinn machte?

Die Zebrastreifen,die Strisce der Fußgänger-Übergänge - selbst die, die zusätzlich noch ein Hinweisschild am Straßenrand haben, gehören zu den meist missachteten Geboten im italienischen Straßenverkehr, obwohl auch für Fußgänger hier  die absolute  Precedenza gilt. Am Anfang haben wir uns noch über die beinahe unterwürfigen Dankbarkeitsbekundungen jener gewundert, die nach zwanzig vorbeirasenden Autos endlich die Straße überqueren konnten, nur weil wir ordnungsgemäß stehengeblieben waren. Oft wurden diese Gesten von einem raschen Blick aufs Nummernschild und einem Lächeln der Erkenntnis begleitet. Was uns ja auch irgendwie schmeichelte. Aber da wussten wir auch nicht, dass hier das Bremsen vor den Strisce für korrekte Autofahrer nicht ganz ungefährlich ist:

Heute hielt die "Zweitbeste" - bei weitem nicht ruckartig - vor einem der tückischsten Zebrastreifen in Porto Maurizio, um einen älteren Herren endlich hinüber zu lassen. Der flitzende Twen Filomena hinter uns, schien derlei Kenntnisse im Fahrunterricht nicht erworben zu haben, denn sie krachte uns ganz schön ins Heck.

Montag, 3. Dezember 2012

Avvento Azzurro

Seit die Kinder aus dem Haus sind, würde ich die Vorweihnachtsstimmung eigentlich nicht sonderlich vermissen. Schon gar nicht, wenn ich am 2. Dezember im T-Shirt hier oben auf der Terrasse vom Liegestuhl aus meinen Blick über den angezuckerten Appenin bis hin zu den bereits tief verschneiten See-Alpen schweifen lasse...

Aber egal ob keine Kinder da sind, oder der Borgo auch sonst verwaist ist - jegliches Ignorieren des Adventes aufgrund mangelnder, einschlägiger Stimmung wird mir unmöglich gemacht. Es beginnt mit dem Ankleben eines Weihnachtskalenders ans Esszimmer-Fenster. Das erste Utensil, das die "Zweitbeste aller Ehefrauen" aus einem unerschöpflichen Fundus von Glitzerkram  hervorholt. 

Da wir mehr oder weniger abwechselnd Weihnachten hier oder in München feiern, sind die Kitsch-Arsenale gleichermaßen angeschwollen. Hier verfügen wir sogar über eine einst von mir für die Kids selbst gebastelte und erleuchtete Krippe, die sich neben dem klassischen Stamm-Personal durch mannigfaltiges, aus Holz geschnitztes Getier derart ausgebreitet hat, dass sie kein ärmlicher Stall, sondern mittlerweile eher eine reiche Ranch ist. Dabei bedeutet diese deutsche Krippe schon  "Eulen nach Athen tragen". Denn Ligurien ist berühmt für seine gigantischen Presepi - nicht nur zur Weihnachtszeit. (Zwei Pracht-Exemplare gibt  es unter vielen anderen in SanPaolo auf dem Hügel von Porto Maurizio und in Gazzelli zu bestaunen).

Was im Münchner Neubau als Kelch meist an mir vorbeigeht, verlangt in unserer mittelalterlichen Bruchbude hier  gnadenlose Fron: Das Dekorieren. Die Zweitbeste wirkt ja nur durch ihre Wortgewalt so riesig. In Wahrheit streiten sich die Chronisten, ob sie nun 154 oder 158 cm hoch ist. Egal wie diese Vermessungen ausgehen - sie reichen halt nicht  annähernd, um Girlanden, Lichterketten, Schwebe-Engel und dergleichen Zierrat in unseren hohen Räumen zu befestigen. Da muss ich ran - ob ich will oder nicht.

Spätestens wenn sich am 1. Advent  die ohnehin schon tief stehende Sonne anschickt, hinter der gegenüber liegenden Bergkette zu versinken, wird das schweigsame Mahnen von unten, derart nachhaltig, dass ich freiwillig zur Tat schreite, obwohl ich das Desaster schon von vornherein kenne: Wieder wird eine der fünfzig Glühkerzchen nicht funktionieren und damit die gesamte Kette nicht leuchten lassen. Wieder wird die Girlande aus Kunst-Tannenzweigen, die im übrigen genauso nadelt, als bestünde sie aus echten, nach den vergangenen Weihnachten so zurückgestopft worden sein, dass ich garantiert das falsche Ende zuerst erwische, um sie um die Gardinenstangen zu drapieren.

Seit ich bei solchen Arbeiten immer in die Nähe eines Nerven-Zusammenbruchs gerate, nehme ich mir vor, mich erst einmal in Ruhe hinzusetzen, um mir einen Plan für mein Tun zu machen. Aber das Bedürfnis, das Montieren so schnell wie möglich hinter mich zu bringen, hindert mich dann doch daran.

Also hier das Drama im Zeitraffer: 
Natürlich fange ich mit der Girlande von der falschen Seite an. Rechthaberisch wie ich bin, habe ich sie aber schon mit Draht fixiert, ehe ich bemerke, dass ich mit ihrem Stecker  auf der anderen Seite nicht annähernd an die nächstgelegene Steckdose komme. Nochmal von vorne anzufangen, kommt gar nicht in Frage. In gefühlten zwei Metern überm Boden, fange ich derart an dieser Anakonda zu zerren, dass die Metallkugel am Ende  der Gardinen-Stange erst auf die Glasplatte des Sidebaords kracht, um dann unerreichbar hinter dem selben zu verschwinden. Damit mir das auf der anderen Seite nicht auch passiert, sichere ich die Kugel, indem ich sie auf einen Bilderrahmen in luftiger Augenhöhe lege. Für die Entwirrung der Drähte, die ich zuvor in einer Sekunde verknüpft habe, brauche ich aber nun gefühlte zehn Minuten. Dann jedoch  läuft es wie am Schnürchen. Ich verschiebe die Girlande soweit, dass der Stecker in die Steckdose reicht, rücke das Sideboard von der Wand und schieße mit dem Kamin-Besen die Kugel so schwungvoll hervor, dass sie drüben unter der Couch landet. Im Abrücken habe ich ja jetzt Übung. Bleibt noch die Befestigung der zweiten Kugel. Blöd nur, dass ich in dem Moment, in dem ich sie vom Bilderrahmen pflücken will, ein wenig das Gleichgewicht verliere. Bild samt Kugel beweisen, dass Newton mit seiner Schwerkraft-Theorie recht hatte... Aber jetzt triefe ich sowieso schon vor Schweiß und bin aber innerlich ganz ruhig, denn die Lichterkette für das Säulenfenster mit dem prachtvollen Bergblick zum Nachbardorf funktioniert einwandfrei. - Geordnet am Boden liegend. Ich verstehe nicht, wieso sie das nicht mehr tut, als ich sie als gedachten Lichtrahmen für das Fenster aktiviere. Ein Birnchen von 50 wackelt oder ist kaputt. Als die Lichterkette bei Nummer 32 durch mein leichtes Berühren erblüht, ist ansonsten die Dunkelheit hereingebrochen.

Zeit für den Auftritt der Zweitbesten, die wie immer im Advent  ob des Lichterzaubers zu Tränen gerührt ist. So schön findet sie das, dass sie mich umarmt und küsst. Dabei flüstert sie mir ins Ohr, dass jetzt nur noch die zu illuminierenden  Oliven-Girlanden im Esszimmer zu montieren seien...

Dabei können doch leidenschaftliche "Adventisten" jetzt in Ligurien so viel schönere Sachen machen: 
Die weihnachtlich erleuchteten Kolonnaden von Pieve di Teco entlang flanieren und in der Bäckerei am Dorf-Eingang die einzigartigen, mit Olivenöl gebackenen Kekse aus Mürbeteig naschen. Oder ab nächstem Wochenende nach Sanremo drei Wochen lang auf den Bobbo Natale Markt gehen. Auch die Fahrt nach Triora ins weihnachtliche  Hexendorf lohnt. Schließlich bereitet da die berühmte Befana am 6. Januar dieser Weihnachtszeit heuer mit einem großen Fest das ersehnte Ende.

Übrigens: Ein Adventskalender, der hilft, Kalorien abzubauen, ist der "begehbare" in der Altstadt von Menton: Ein steiles Treppauf-Treppab zwischen 24  Kunstgalerien, Bonbon-Läden und Kitschbuden die jeweils am betreffenden Datum mit besonderen Aktionen ihre "Törchen" öffnen...