Mittwoch, 20. Juni 2012

Wie die Steine aus der Spur gerieten


 Castellinaria Kapitel 6

Bernhards wunderbare Jahre auf Rügen waren auch die Zeit des Aufstiegs eines Mannes zum ganz großen Sportstar der DDR. Gustav-Adolf Schur, genannt „Täve“, war durch seine Leistungen auf dem Rennrad zu einem Vorreiter der kommenden Sport-Supermacht geworden und als erster noch aktiver Weltmeister 1959 in die Volkskammer eingezogen.
  Bernhard wurde nicht „Täves“ ultimativer Fan wegen der vielen Siege und dessen tadelloser Haltung als Sportsmann, die später im Exil der Schriftsteller Uwe Johnson (Mutmaßungen über Jakob) literarisch manifestiert hatte. Vielmehr entdeckte er in der  Geradlinigkeit des politischen Athleten sehr viel von seiner eigenen Einstellung zum selbst ernannten Arbeiter- und Bauernparadies:
  Wenn einer an einer Sache grundsätzlich mitarbeiten will, auch wenn einem da Auswüchse sauer aufstoßen, dann muss er dort, wo er anpackt, das Maul aufmachen. Das tat der „Täve“ (übrigens auch noch als er nach der Wiedervereinigung bis 2002 als sportpolitischer Sprecher für die PDS im Bundestag saß), und deshalb schwang sich Bernhard quasi solidarisch aufs Rennrad.
  Man hatte den „Ruinen-Bernd“ als Einzelkämpfer mit der Maurerkelle überall auf der Insel zu aufgelassenen Herrenhäusern und Villen geschickt. Die SED und ihre diversen Unterorganisationen hatten auf einmal auch einen enormen Bedarf an Schulungszentren sowie Sport- und Erholungsheimen. Zum Teil waren die so entlegen, dass er bei Eiseskälte und ohne bereits wieder funktionierende Installationen regelrecht in ihnen kampieren musste.
  – Er war also mit seinen verqueren politischen Ansichten erst einmal aus dem Weg. Denn ohne fahrbaren Untersatz war er deutlich isoliert von Kollegen, die seine Ansichten hätten teilen können. Aber als Held der Arbeit mit 10 000 Mark in der Tasche kam er trotzdem schneller an so einen Renner – wie ihn der „Täve“ fuhr - als der Rest der Bevölkerung. Der musste bei den nun durch die spontane Nachfrage provozierten Engpässen der VEB-Fahrradproduktion zum Teil erst einmal Bezugsscheine für einfachste Drahtesel erwerben. Bernhard jedoch erhielt sein Velo, das bis ins Detail dem seines Idols entsprach, direkt von der elitären Sportgeräte-Schmiede im Umfeld der Leipziger Sportfakultät und war mit ihm wieder zurück in der Polit-Agitation.
  Von da an sah ihn die Inselbevölkerung egal ob bei Gluthitze,  bei steifem Wind oder splittrigem Frost zu diversen Baustellen über das kupierte Gelände Rügens düsen. 30 Kilometer nach dem Frühstück von seiner nun festen Unterkunft in Gustow zur Arbeit  und abends auf Umwegen über die Genossen zurück waren keine Seltenheit. Aber jetzt war ihm zu Raum und Zeit auch die Kraft gegeben. Und die wuchs noch mit jedem geradelten Kilometer.
  Dem Streckenschwimmen, seiner zweiten Leidenschaft, frönte er, so bald die Wassertemperatur der Ostsee im Sund über 16 Grad lag. – Auch da interessierten ihn die übrigen Wetterbedingungen dann nur beiläufig.
  Er war zu einer testosteronträchtigen, nahtlos gebräunten Augenweide für Freunde der Körperkultur mutiert, als er sich für den Juli 1960 zum Sundschwimmen anmeldete. Das älteste deutsche Langstrecken-Schwimmen über 2,3 Kilometer von Rügen über den Strelasund nach Stralsund hinüber schien ihm der richtige Test für sein neues, ganz persönliches Kontinuum zu sein. Er hatte sich lediglich vorgenommen, die Strecke in etwa dreißig Minuten zu schaffen. Wie er dann unter den tausend Mitschwimmern abschnitt, war ihm eigentlich egal, denn er war ja kein registrierter Wettkampfschwimmer – eher ein Gentleman-Sportler.
  Für ihn wurde dann nach einem mühelosen Schwimmspaß über die spiegelglatte Meerenge tatsächlich eine Zeit von 30 Minuten 22 Sekunden registriert, was ihn vor allem wegen seiner richtigen Selbsteinschätzung  durchaus befriedigte. Er konnte nicht ahnen, dass ihn seine sportliche Leistung nach der Urkundenverteilung bei der abendlichen Tanzveranstaltung in eine neue, gänzlich andere Dimension seines Lebens stoßen würde.
  Bernhard hatte – kaum zu erstem Geld gekommen – in dem spießigen Umfeld des DDR-Alltags begonnen, ein besonderes Augenmerk auf gute und Stil sichere Kleidung zu legen. Ausgerechnet der KPD-Opa war hierfür die Initialzündung gewesen, denn der organisierte von Strausberg aus auf höhere Anweisung Reisen zwecks Meinungs- und Gedankenaustausch im Sinne der Sozialistischen Internationalen. Es lief im Wesentlichen darauf hinaus, dass ausgewählte und verdiente deutsche KP-Veteranen auf Einladung nach Italien oder Frankreich verbracht wurden, um sich vor Ort einen Eindruck davon zu verschaffen, wie die Genossen unter den kapitalistischen Bedingungen – beispielsweise denen des italienischen Wirtschaftswunders - ihre Ziele verfolgten. Auf Gegeneinladung sollten die italienische Socii   und die französischen Copains sich dann propagandaträchtig darüber vergewissern, wie viel toller dies unter den Paradigmen des real existierenden DDR-Sozialismus funktionierte – oder auch nicht.
  Die Berichte des Großvaters über den „Spaghetti-Kommunismus“ eines Palmiro Togliatti oder über den sozialistischen Jungstar Enrico Berlinguer hatten bei Bernhard wohl erstmals die (häufig wohl auch genetisch veranlagte) Sehnsucht nach dieser Leichtigkeit des Lebens im  Süden aktiviert; die Sehnsucht im goethischen Sinne nach „dem Land, wo die Zitronen blühen“ war es jedenfalls nicht. Die abgebildeten Genossen der PCI in ihrem Parteiblatt „L’Unita“, das dem KPD-Opa wegen der Berichte über seine Reisegruppen gelegentlich geschickt wurde, machten einen so gänzlich anderen Eindruck als die stets verknöcherte Riege der DDR-Führung. Berlinguer wurde in seinem Charisma eindeutig von der lässigen Eleganz seiner Kleidung gestützt, was selbst im miesen Druckraster  zu erkennen war.
  Kleider machen Leute. Dieser alte deutsche Spruch hatte in der DDR völlig an Bedeutung verloren. Selbst die halbstarke und  aufmüpfige DDR-Jugend, die sich in „Röhrenhosen“ genannte VEB-Jeans zwängte und sich Haartollen im Elvis-Stil kämmte, wirkte irgendwie hilflos uniform. Das wollte Bernhard nicht. Er fand, Sozialismus und Schick mussten sich nicht ausschließen, und sein Handwerk sollte ihn erst recht nicht daran hindern, schnieke auszusehen.
  Ein Freund von der Berufsschule hatte sich in Strausberg als Schneider „selbständig“ gemacht. Zu dem ging er und zeigte ihm die Fotos aus dem italienischen Parteiorgan. Der „baute“ zuzüglich eigener Ideen die Anzüge, Hosen und Jacken der italienischen Genossen  nach und wurde dadurch, dass die intellektuelleren Führungskreise später bei ihm schneidern ließen, einer der wenigen erfolgreichen „privaten Unternehmer“ der DDR…
  Mag sein, dass Bernhard mit seinem Auftritt bei der Siegerehrung und dem, was diesem folgte, so eine Art Anschub-Marketing für den Freund geleistet hatte: Jedenfalls sprang er bei der Siegerehrung mit einem federnden Satz blond und braun gebrannt in einem stahlblauen, zu seinen Augen passenden Maßanzug, auf die Bühne. Es war die zweite Begegnung mit Otto Dudenhove.
  Dudenhove war nicht nur Volkskammer-Abgeordneter, sondern er war als so eine Art „Capo di tuti Capi“ für alle Bau-Kombinate in Mecklenburg zuständig. Und der  zu diesem Zeitpunkt natürlich dort noch unbekannte Mafia-Ausdruck, der Bernhard später so geläufig werden sollte, passt in der Nacherzählung wahrlich am besten, weil Dudenhove seinen geplanten Aufstieg ins Politbüro durchaus mit den Mitteln eines Paten bestritt.
  Charakterlich ein echter Eisbär mit entsprechendem Raubtier-Instinkt schaffte es sein oberflächlicher Charme immer wieder, dass es seine Opfer erst vor Angst fror, wenn er sie schon auf einer Eisscholle zum Verspeisen isoliert hatte. Bernhard sollte es genau so ergehen. Die Eisscholle für Bernhard im übertragenen Sinne des Wortes war Dudenhoves Töchterchen Käthe, die an diesem  Abend Medaillen, Urkunden und Küsschen  verteilte.
  So lange war es noch nicht her, dass Bernhard „Held der Arbeit“ geworden war, und die Tatsache, dass er zeitlich als bester nicht  organisierter Schwimmer an die Spezialisten heran geschwommen war, bot daher dem Politiker Gelegenheit zum Schwadronieren. - Käthe und Otto wussten, wann sie Klasse vor sich hatten, die sie für ihre Ziele nutzen konnten.
   Während Otto also mehr blumige Worte zu Bernhard Kleiners sozialistischer Vorbildfunktion fand, als für die Leistung der eigentlichen Sieger des Sundschwimmens, winkte er die Fotografen herbei. Die schossen ein Foto von den sich freundschaftlich umarmenden Männern, an die sich Käthe drückte, als seien die Drei da schon diese spontan von ihr geplante DDR- Vorzeigefamilie: Der verwitwete Spitzenfunktionär, seine Tochter als Studentin in einem Männerberuf und der potenzielle Schwiegersohn, ein Maurer bäuerlicher Herkunft mit dem Stern eines Helden der Arbeit dekoriert – und ein Schwimmstar wider Willen.
  Bis dahin hatte Bernhard – einmal abgesehen von ein paar Maurer-Jungen-Abenteuern mit Mädchen, denen man im natürlich prostitutionsfreien Sozialismus als Gegenleistung Gefälligkeiten erweisen musste -  keine Ruhe gehabt, um Frauen kennen zu lernen. Sich an einem Ort länger als nötig  aufzuhalten, um einer Frau den Hof zu machen, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. Das sollte sich jetzt durch dieses Mädchen ändern, denn Käthe war fest entschlossen, dem sozialistischen Muster-Mannsbild Bernhard ein Kind zu machen.
  Da Bernhard keine Ahnung von Frauen hatte und dem Phänomen der wahren Liebe noch nicht begegnet war, hatte er natürlich auch erst recht keine Ahnung, dass es zu deren edlem Ideal-Bild auch Varianten gab, die von Machtinstinkten gesteuert wurden. Als ihm Käthe offen Avancen machte, war es um ihn geschehen. Er verliebte sich in das mittelgroße Mädchen mit den streichholzlang geschnittenen braunen Haaren, obwohl ihm der burschikose, knabenhafte Typ eigentlich nicht so lag.
  Käthe studierte Bau-Ingenieur in Rostock, und so wie Bernhard ein Ideal-Mann nach DDR-Muster war, so entsprach Käthe der Vorstellung, wie Frau in dem Arbeiter- und Bauernstaat zu sein hatte, wenn sie eine intellektuell gesteuerte Führungsposition einnehmen wollte: eine linientreue Kaderideologin, die keiner Aufgabe auswich, bei jeder Parteisitzung das Wort ergriff und sich gerade soviel weiblichen Charme zugestand, dass sie auf Knopfdruck begrenzte Begierde bei Kollegen auslösen konnte. Das geschah  aber ausschließlich, damit sie ihre Ziele leichter erreichen konnte.
  Beim ersten Knutschen mit Bernhard dachte sie, um in Fahrt zu kommen, an die Rundungen der etwas übergewichtigen Kommilitonin mit dem kantig slawischen Gesicht, die das Zimmer im Studentenheim mit ihr teilte. Natürlich besaß sie soviel Selbstkontrolle, dass sie dieser speziellen aber sicher karrierefeindlichen Neigung niemals nachgegeben hätte. Es ist aber denkbar, dass sie gerade deshalb sexuell so funktionell und offensiv bei Bernhard vorgehen konnte, weil sie sinnlich eigentlich nicht bei der Sache war.
  Bernhard merkte davon zunächst vor allem deshalb nichts, weil er umgarnt und umsorgt wurde wie seit dem Tod seiner Mutter nicht mehr. Und auch die Tatsache, dass ein so wichtiger Mann wie Otto Dudenhove ihn nicht nur wegen der Liaison mit seiner Tochter wichtig nahm, gab ihm ein gutes Gefühl.
  Dass der Funktionär ihn wieder nach Stralsund holte, weil er den jungen Mann um sich haben wollte, ihn zudem in „seine Kreise“ einführte, schmeichelte beider Eitelkeit. Bernhard stellte sich nicht einen Moment die Frage, wieso ihm Dudenhove, in dessen Macht es ja gestanden hätte, nicht gleich  Arbeit und Quartier im nur hundert Kilometer entfernten Rostock vermittelt hatte. War es doch so offenkundig gewesen, dass Käthe und er ein Paar waren und schon bald auch ans Heiraten dachten…
  Aber dann war eben wieder „politischer“ Alltag. Die Tageszeitungen mit den Aufmachern über den schwimmenden Helden der Arbeit waren beim Altpapier und drohten in Vergessenheit zu geraten. Das konnte der Propaganda-Profi Dudenhove natürlich nicht zulassen. Er sorgte also dafür, dass sein Schwiegersohn in spe als „Fachberater“ kaum noch von seiner Seite wich. Er spielte dabei bewusst mit dem Kontrast zwischen dem zivilen und dem handwerklichen Erscheinungsbild seines Protegées und verschaffte sich mit diesem Trick selbst Kompetenz. Denn tatsächlich hatte Dudenhove von den meisten Dingen am Bau keine Ahnung.
  So wie Bernhards Fixstern der „Täve“ war, so hatte sich Otto Dudenhove einen Mann als Orientierung für seine Karriereplanung erwählt, der etwa gleich alt und noch smarter bei der Auslotung und Erschließung persönlicher Geldquellen im real existierenden Sozialismus war als er selbst. Sie hatten Berührungspunkte, weil der Mann als Vertreter des Außenhandels auch in einer übergreifenden Baukommission saß: Alexander Schalck-Golodkowski.
  Der aalglatte Karrierist, dessen Doppelspiel zwischen beiden deutschen Staaten auch nach der Wiedervereinigung (wohl auf höhere Beeinflussung) bis heute nie vollständig ausgelotet werden konnte, war eindeutig charismatisch, kleidete sich da aber eher noch unvorteilhaft. Dudenhove, der sich von Bernhard bald die Adresse des Strausberger Schneidermeisters hatte geben lassen, reichte die flugs an sein Idol Schalck weiter, und es darf angenommen werden, dass die beiden darauf hin eine Art geschäftliches Interesse aneinander pflegten. Jedenfalls häuften sich in persönlichen Gesprächen mit Bernhard Sätze wie: Der Genosse Schalck-Golodkowski hat das gesagt. Der Alex meint dies. Der Golo glaubt das…
  Derweil radelte Bernhard an jedem freien Wochenende die hundert Kilometer zu Käthe nach Rostock. Anfangs noch mit einem Rucksack, in dem die „Ausgehkleidung“ verstaut wurde. Aber nachdem der KPD-Opa begonnen hatte, von seinem Taschengeld aus Italien Felgen, Reifen, Naben, Zahnkränze und Übersetzungen solcher Edelmarken wie Colnago und Campagnolo für seinen radnärrischen Enkel mitzubringen, war Bernhard die Idee zu seiner „Zauberkiste“ gekommen.
  Noch heute rätselt er, ob ihn schon da eine gewisse Ahnung dazu getrieben hatte, die fehlerhafte rundeckige Aluwanne, die er bei einem Zulieferbetrieb abgestaubt hatte, wasserdicht zu machen. Jedenfalls schuf der Schrauber und Bastler Bernhard mit den zwei ausrangierten Rädern Leipziger Bauart und einem zurechtgebogenen Lochblech-Profil als Deichsel einen ultraleichten Radanhänger, der mit einer Persenning komplett abgedeckt werden konnte. Die Konstruktion lief so leicht und verteilte den Druck trotz Zuladung derart gut, dass es in der Ebene kaum zur Verlangsamung des Fahrtempos kam. Bernhard hätte mit so einem „Buggy“ im Westen ein Vermögen machen können,  zumal er bis zum Frühjahr 1961 noch diverse Verbesserungen an seiner Erfindung vorgenommen hatte. Dann aber sollte die „Zauberkiste“ über Nacht eine gänzlich andere Bedeutung bekommen.
  Schlag auf Schlag hämmerte das Schicksal Bernhard da einen anderen Kurs ein. Es begann damit, dass Käthe sich Ende April schwanger fühlte und, was das Heiraten anging, aufs Tempo drückte. Doch die Euphorie, die Bernhard durch diese Verkündigung beseelte, erhielt einen Dämpfer durch ein denkwürdiges Besäufnis mit seinem Schwiegervater in spe.
  Am Abend des 1.Mai nach diversen Feierlichkeiten am Tag der Arbeit hatten die zwei nicht aufhören können und waren noch mit einer Flasche Wodka auf Bernhards Bude versackt.
  Es ist keine besondere Erkenntnis, dass sich  nüchterne Charaktere im Stadium der Trunkenheit anders offenbaren. Während Bernhard zu den Typen gehört, die ruhig und bedächtig werden, löste das Feuerwasser bei Otto Dudenhove einen unerwarteten Hang zu einer ansonsten gnadenlos kontrollierten Extrovertiertheit. Nie hätte er sich das gestattet, wenn er sich seines Schwiegersohns nicht schon so sicher gewesen wäre. Auf einmal verfiel er nämlich genial in die nasale Fistelstimme Walter Ulbrichts und hielt eine Ansprache, die bewusst und deutlich konspirativ nur für die Ohren Bernhards bestimmt war:
  „Maurer! Genossen in den Bau-Kombinaten! Es wartet eine große vaterländische Aufgabe auf Euch. Die Partei, das Zentralkomitee und ich haben gemeinsam mit unseren Genossen aus der glorreichen SU beschlossen, einen Schutzwall gegen die permanenten US-imperialistischen Übergriffe zu errichten, die sich vom Staatsgebiet der BRD aus auf die Souveränität unserer Deutschen Demokratischen Republik richten.“
  Hätte er die Augen geschlossen gehabt, Bernhard hätte die Sätze für eine Original-Ansprache gehalten. So aber hatte er sie vor Schreck weit aufgerissen, und lachen konnte er über diese perfekte Parodie auch nicht.
Zumal Dudenhove jetzt mit schwerer Zunge zwar, todernst in seine eigene Sprache zurück fiel:
  „Die Frontarbeit werden die Pioniere der NVA mit den russischen Genossen leisten. Von uns im Hintergrund erwartet man, dass wir die Logistik vorbereiten. Wenn du dich da mit einbringst, wirst du am Ende mehr sein als nur ein Held der Arbeit. Du musst mir helfen, große Mengen Material von unseren größeren Baustellen hier in Richtung Lübecker Bucht umzulenken. Ich brauche dafür einen verlässlichen Genossen, der den Deckel möglichst lang auf dem Topf halten kann und sich nach geeigneten Gebäuden umschaut, die mit wenig Umbauarbeiten als Quartiere für das aufgestockte Grenzpersonal geeignet sind.“
  Bernhard nickte versonnen, doch was der andere als kadertreue Zustimmung interpretierte, war das Bejahen einer schlagartig nüchternen persönlichen Entscheidung, die der „Freimaurer“ in Sekunden getroffen hatte. Er würde nicht helfen, die Spur der Steine zu verändern. Er würde sich selber verändern – räumlich!

  Am  darauf folgenden Wochenende versetzte er Käthe ohne Nachricht und kurbelte die etwa 270 Kilometer Landstraße von Stralsund nach Strausberg zu Großvater und Bruder in knapp sieben Stunden herunter. – Dabei hatte er bereits die gewisse, von allgegenwärtiger Staatssicherheit gespeiste Paranoia als „schwere Last“ im Rucksack seines schlechten Gewissens. Was, wenn Käthe nun tatsächlich schwanger war?
  Seine beiden letzten direkten Verwandten waren nicht wenig überrascht, ihn so unvermittelt mit dem Rad auftauchen zu sehen. Und sie waren besorgt, als er nach der gerade überstandenen Strapaze darum bat, sie mögen doch am Straussee einen schönen Abendspaziergang machen.
  Während sie zum Fischerkietz hinunterschlenderten, fiel Bernhard mit der Tür ins Haus:
  „Der Ulbricht will einen sozialistischen Menschenzoo aus uns machen. Er will uns einmauern und einzäunen – angeblich um uns vor US-imperialistischen Übergriffen zu schützen. Ich weiß nur nicht, wann und wo es losgeht. Ich bin aber für Juli wohl schon diesbezüglich an die Lübecker Bucht abgestellt.“
  Der linientreue SED-Opa machte einen weit weniger überraschten oder gar abweisenden Eindruck als Bernhard erwartet hatte. Sein Bruder Robert allerdings brach das kurze Schweigen als erster. Er, der nach dem 17. Juli 1953 und dem Aufstand der intellektuelle Jugend 1956 trotz Jugendweihe und FDJ-Zugehörigkeit nicht nur aufgrund seiner gesundheitsbedingten Zurückhaltung bei Aktivitäten manch Demütigung zu schlucken gehabt hatte, war längst ideologisch von der Linie abgerückt:
  „Das ist Verrat an der Idee. Da siehst du Opi, was du immer nicht wahrhaben wolltest. Wir leben im tiefsten Faschismus.“
  Bernhards Großvater machte einen gelassenen Eindruck und reagierte gar nicht empört auf den Angriff seines jüngeren Enkels:
  „Ich nehme an, es geht noch diesen Sommer los, denn ich habe dieser Tage die Mitteilung bekommen, dass es ab Juli keine Reisen mehr zu oder gar Einladungen für ausländische Genossen aus dem Westen geben soll. Für Juni steht noch eine Reise nach Mestre an, die venezianischen Genossen werden vierzehn Tage später zum Gegenbesuch erwartet. Dann soll auf höhere Weisung erst einmal Schluss sein mit unserer Beteiligung an Treffen der Sozialistischen Internationale außerhalb des Warschauer Paktes.“
  „Dann müsst ihr raus!“
  Bernhard wusste, dass sein Großvater, der nach dem Tod der Mutter ihr Vormund gewesen war, seinen kleinen Bruder schon einige Male als Unterstützung auf die Reisen hatte mitnehmen dürfen, wenn Schule und später das Studium dies zuließen.
  „Ich weiß nicht. In meinem Alter alles aufgeben?“
  „Denk an Robert und sein krankes Herz. Was hat der als Bruder eines Republikflüchtlings zu erwarten. Noch dazu, wenn der ein Held der Arbeit war?...“
  „Das heißt, du willst hier auf alle Fälle weg, wo du es dir doch gerade so gut eingerichtet hast?“
  „Ich habe mir geschworen, dass ich nie wieder frieren will und momentan ist mir ganz eisig kalt ums  Herz.“
  Es gab eine Schwester des verstorbenen SPD-Opas in Kerpen bei Köln. Bernhard empfahl ihnen, sich da hin zu wenden und drückte dem Großvater 4000 Mark von seiner Prämie in die Hand. Dann tranken sie noch ein paar wehmütige Gläser Bier in einer traditionellen Fischerkneipe, deren Gemütlichkeit der Resopal- und Plaste-und-Elaste-Sozialismus noch nichts hatte anhaben können.
  Im Morgengrauen war er ohne Abschied, aber mit der Hoffnung zurück geradelt, die beiden im anderen Deutschland wohlbehalten wieder zu treffen – mit oder ohne Käthe.
  Mitte Juni bekam Bernhard eine in Strausberg abgestempelte Postkarte. Auf einer persönlich unterschriebenen Autogramm-Karte von Berlinguer, die der Großvater wohl in einem Anfall von Galgenhumor umfunktioniert hatte, stand in der krakeligen, nur von nahen Verwandten zu entziffernden Schrift:
   „ Vinceriamo! Wegen des bevorstehenden Feiertages erwarten wir auch viele unserer westdeutschen Genossen. Salve Enrico.“
  Das war das vereinbarte Zeichen, dass der Großvater und Robert dazu entschlossen waren, sich am 16. Juni von ihrer Reisegruppe abzusetzen. Das bedeutete auch, dass Bernhard an diesem Tag, beziehungsweise in der Nacht zum „Tag der Deutschen Einheit“ seine bis ins Detail geplante „Ausbürgerung“ antreten würde.
  Und zwar ohne schlechtes Gewissen. In einigen vorsichtig und taktisch klug geführten Gesprächen mit Käthe hatte er erfolgreich ausgelotet, dass die fanatische Beziehung seiner Freundin zur DDR die vermeintliche Liebe zu ihm erheblich überwog – nein, eigentlich klar ausschloss. Diese bittere Erkenntnis  ging einher mit Käthes Geständnis, dass sie zwischenzeitlich längst wieder ihre Regel gehabt hätte. Anfang Juni war die Gefühlskälte zwischen ihnen spürbar so groß geworden, dass Bernhard einen bewusst mit Käthe herbei geführten Streit als inszenierten Abgang und Ausrede geplant hatte, - falls er bei seiner Republikflucht erwischt würde.

  Was dann tatsächlich ablief, ist ein aus Bruchstücken zusammen gesetztes Mosaik aus Spekulationen. Bis weit in die 1990er beharrte Bernhard darauf, er habe die DDR wegen eines „Kavaliersdeliktes“ verlassen. Obwohl er Stasi-Übergriffe da schon nicht mehr fürchten musste, ließ er sich detailliert weder über die Fluchtroute noch über die drei Monate aus, die er brauchte, um in Kerpen wohlbehalten wieder mit dem Großvater und seinem Bruder zusammen zu treffen.
  Da er auf seinem Rennrad samt „Zauberkasten“ dort eintraf, liegt die Vermutung nahe, die Flucht sei radelnd und schwimmend erfolgt. Das beharrliche Schweigen darüber war aber möglicher Weise auch aus Sicherheitsgründen derart in Fleisch und Blut übergegangen. Nach und nach trafen in Kerpen nämlich Genossen im Geiste ein; also andere „Freimaurer“, die mit Bernhard in verschiedenen Kombinaten und Kolonnen malocht hatten. Das Schlupfloch, durch das sie „rüber gemacht“ hatten, hielt zumindest bis zum Frühsommer 1962. Da war es auf Initiative von Bernhard schon zur Gründung des „Bullenklosters“ gekommen:
  Seine sieben „konspirativen“ DDR-Kollegen, Bruder Robert und Willy Granzow, der sich fortan verbat, KPD- oder SED-Opa genannt zu werden, zogen mit Bernhard in ein Appartementhaus vom Lenz, bei dessen Bau er gewissermaßen schon als Polier gewirkt hatte.
Aber da hatte ja schon die wirklich große, wahrhaftige und einzige Liebe seines Lebens Besitz von Bernhard ergriffen.

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