Freitag, 1. Juni 2012

Stur wie ein Esel

Castellinaria Kapitel 1


  Die Alten des Dorfes fanden sich nach und nach schweigend auf der steilen Mauer im Schatten der Kastanien, Platanen und Akazien ein. Da sie ausnahmslos Schwarz trugen, muteten sie an wie eine zögerlich eintrudelnde Versammlung von großen, flatterigen Rabenvögeln auf einer Überlandleitung. Es mögen sich im Laufe einer halben Stunde wohl an die tausend Lebensjahre dort entlang der krummen Stufen versammelt haben, die in die mittelalterlichen Ruinen hineinführten.
  Weiter oben, schon im Schlagschatten der engen Gasse, summten und schwirrten die Schmeißfliegen um zwei gewaltige Dungfladen, die sich beim fallen Lassen fast über die gesamte Breite des Aufstiegs  ausgedehnt hatten.
  Die riesigen ligurischen Ochsen, die sich vor ein paar Minuten derart erleichtert hatten, bevor sie - die urgewaltigen Hinterteile voran - in ihre Cantina-Höhlen bugsiert worden waren, sorgten für ein weiteres Hindernis. Mit ihren Titanen-Köpfen und sabbernden Mäulern, die von beiden Seiten so weit in die Passage hineinragten, dass sie fast aneinander stießen, schufen sie ein respektables Bollwerk. Sie waren offenkundig froh, der schon in den Morgenstunden herrschenden Sonnenglut entronnen zu sein. Auch die Alten in ihren schwarzen Stoffsakkos mieden jeden direkten Sonnenstrahl und genossen den bisweilen kühlenden Atemhauch der Tramontana. Der Fallwind aus dem Appenin nährte einmal mehr die Hoffnung, dass ein paar kräftige Gewitter die eingeschränkte Wasserversorgung hier oben beenden mochten. Normalerweise hätten  sich die Männer im Dunkel der kühlen Kellergewölbe schon mal das erste Gläschen Rotwein des Tages gegönnt, aber dieses angekündigte Schauspiel wollten sie sich einfach nicht entgehen lassen.
  „Beim nächsten Mal macht er schlapp“, prophezeite der ausgezehrte Mario Bartolo. Er reckte sein stoppeliges Kinn in die Brise und sah dabei so aus, wie Mussolini gerne seine Contadini in den frühen Propagandafilmen hatte in Szene setzen lassen.
  „Eine Packung Nationale dagegen!“ Claudio  mit gleichem Nachnamen aber doch nur ein entfernter Vetter von Mario hatte dem Wettobjekt ein ansehnliches Bündel 1000-Lire-Scheine zu verdanken. Und er hatte mit den Deutschen ja als Partisan zu tun gehabt: „Er wird es schaffen - der tedesco pazzo …“
  Sie warteten darauf, dass der lange Blonde und der mickrige Esel, den ihm der listige Fulvio geborgt hatte, endlich aufgeben oder gar unter den Lasten und  der Glut dieses Vormittags zusammenbrechen würden. Fast die Hälfte der betagten  Rabenreihe hatte dem „verrückten Deutschen“, wie ihn Claudio genannt hatte, in der letzten Woche ein Stück zerfallenes Gemäuer an der steilen Ostflanke des mittelalterlichen Wehrdorfes verkauft.
   Einst als Rückzugsrefugium gegen die Piraten auf einer Felsnase mitten in den schier unendlichen Olivenhainen der Campagna Imperese errichtet, war das Dorf nun im Jahre 1968 nahezu verlassen. Die Jungen waren wegen der vermeintlich leichteren Arbeit und des Dolce Vita, das ihnen das Fernsehen vorgegaukelt hatte, in die Industrie-Städte im Norden oder in die touristischen Ballungszentren der Riviera gezogen. Die Alten schufteten, gewissermaßen als letztes Aufgebot, so lange es eben noch ging, in diesem von Oliven- und Weinernten bestimmten Wartestand zum Jenseits.
  Und dann kam dieser Deutsche Spinner und zahlte für wertloses Gemäuer mal kurz eine Million Lire oder für ein verwildertes Stück Garten mit ein paar gegen die Trockenheit kämpfenden Zitronen- und Feigenbäumen unvorstellbare  600.000 Lire. Obwohl er offenbar so reich war, dass er sein Geld zum Fenster hinaus werfen konnte, begann er nun auch noch zur völlig falschen Jahreszeit damit, sich als Ruinen-Baumeister selbst abzukämpfen. Er würde knöcheltief durch die Ochsenfladen stapfen müssen. Der Esel würde bocken, wenn er zwischen den beiden Monstern hindurch müsste, und die gnadenlose Sonne würde dem hellhäutigen Blonden nach dem fürchterlichen Sonnenbrand einen gnädigen Hitzschlag versetzten, noch ehe nur eine der sinnlos erworbenen Mauern wieder stünde.

  Der Baustoff-Händler aus Borgomaro hatte alles unten an der Schotterstraße abgeladen, was Bernhard Kleiner für den ersten Bauabschnitt bei ihm geordert hatte: Zementsäcke, einen stattlichen Haufen schwarzen Schiefersandes, der wie das Teergranulat erst noch in Kiepen umgefüllt werden musste,  Dachrinnen, Leitungsrohre, Kabel und eine handbetriebene Miet-Mischmaschine. Näher als die zwei Serpentinen vom Hauptort herauf an den unteren Dorfeingang ging es nicht. Der Rest würde harte körperliche Schlepparbeit sein; zweihundert Meter über Stufen und steile Plattenwege hinauf zur eigentlichen Baustelle. Es war zu befürchten, dass die Hälfte des Materials über Nacht verschwunden sein würde, wenn Bernhard es nicht  binnen eines Tages auf sein gesichertes Terrain geschafft hätte.
  Bernhard hatte im Morgengrauen bereits Bekanntschaft mit seinem langohrigen Assistenten gemacht. Fulvio, der Dorfälteste, hatte ihm den Graukittel als sconto für große, grob behauene Sandstein-Quader überlassen, die der Deutsche ihm abgekauft hatte. Was für ein Trottel! Fulvio hatte sich die ganze Zeit über die herumliegenden Dinger geärgert. Jetzt schaffte der Deutsche sie fort und zahlte auch noch dafür. Kein Mensch würde heutzutage noch diese Brocken verarbeiten. Laura, seine Frau, müsste dann nach der Räumung des Trümmerfeldes nicht mehr zu ihrem Gemüsegärtchen an den oberen Ortsrand. Jetzt würde sie einen Garten direkt vor der Haustür bekommen. Ein Garten am Haus - das war für die Bewohner solcher Nester in den Bergen ein Zeichen von echtem Wohlstand.
  - Was der Esel, der Beppo hieß, ganz sicher nicht war. Kaum weniger hinfällig als sein Eigentümer balancierte Beppo einen stattlichen Hängebauch auf ziemlich zerbrechlich wirkenden Stelzen. Der Rücken hing so durch, dass Bernhard, der von Eseln ziemlich wenig verstand, sich fragte, wie der überhaupt den Berg hochkommen sollte. Geschweige denn nur einen Sack Zement dabei würde tragen können. Aber als er ihm eine vorsorglich eingesteckte Kohlrübe als Akt der Fraternisation hinhielt, glaubte er in den aufmerksamen Augen des Tieres so etwas wie sein "Alterasino" zu entdecken: Sturheit, Verschlagenheit aber auch ein Beharrungsvermögen, das keiner beiden  auf einen flüchtigen Blick hin anzusehen vermochte...

  Und dann hatten die beiden Sturköpfe mit ihrer vermeintlichen Sisyphos-Arbeit begonnen:  Der 31jährige Bernhard, der mit seinem lang gezogenen Adlerprofil und der hoch mögenden Kopfhaltung eher anmutete wie einer, der sich nicht gern die Hände schmutzig macht und der alterslose Beppo, der mit dem Auflegen des Tragegeschirrs auf einmal seinen Rücken mit dem "Jesuskreuz" auf der grauen Schulter durchstreckte und keinen Hängebauch mehr hatte. Selbst bei zwei Zementsäcken auf jeder Seite bog sich der Rücken des Esels nicht mehr durch, so dass Bernhard, der vor dem Tier nicht zurückstecken wollte,  seinerseits ordentlich schulterte.
  Der lange Deutsche hatte ebenfalls unsichtbare Kraftpotenziale an seinem hageren Körper, die manchem arglosen Widersacher oder vorlauten Mitarbeitern auf anderen Baustellen schon zum Verhängnis geworden waren. Das waren keine Muskelprotzereien, sondern routinierte, abgestimmte Bewegungsabläufe aller Gliedmaßen. Sie erweckten den Eindruck absoluter Mühelosigkeit. Als hätte der Schlacks leicht selbst das Quantum des Esels bewältigt. Sie schafften so an die 15 Säcke pro Stunde. Am Ende der zweiten Stunde fanden sich dann die "Rabenvögel" ein, denn die Kunde vom Unterfangen Bernhards hatte sich zwischen den wenigen noch bewohnten Häusern schnell herumgesprochen. Jetzt mit der Hitze musste der Mann doch wohl aufgeben...
  Aber Bernhard richtete sich ganz nach dem Rhythmus von Beppo. Sie machten nach jedem Aufstieg Pausen, die der Esel bockig einforderte. Tranken das herrlich kühle und mineralhaltig schmeckende Wasser aus der Fontana und teilten brüderlich ein Stück Foccacia bevor sie leichtfüßig wieder zur Schotterstraße hinunter trabten...
  Aber nun herrschte in der Gasse dieser penetrante Ammoniak-Gestank, und die Bremsen fielen über sie her. Von den Monster-Hörnern, die drohend den Weg versperrten, ganz zu schweigen. Bernhard spürte, wie sich die Augen der "Raben" in seinen Rücken bohrten, als er erstmals auf die neuen Hindernisse zustrebte. Er hatte seine bewährten deutschen Norm- Arbeitsstiefel mit den Schutzkappen an und patschte mitten in die Ochsenfladen hinein, dass es nur so gegen die Hauswände spritzte. Und als sich die Titanen-Köpfe nicht in ihre Höhlen zurückziehen wollten, trat er dem einen mit frisch gedüngter Sohle fest genug gegen die weichen Nüstern, so dass auch der andere diese Schmerzen ahnen konnte. Diese Behändigkeit trotz der Last auf seiner Schulter nötigte den Alten schon Respekt ab. Sie nickten einander beifällig zu. Doch noch immer war das sardonische Lächeln aus ihren von Sonne und Alter plissierten Gesichtern nicht ganz verschwunden, denn jedermann kannte Beppos Angst vor den ausladenden Ochsenhörnern.
  Und richtig, kaum war Bernhard, der sich den Zaum des Esels an den Werkzeuggürtel gehakt hatte, vorbei und ein paar Stufen weiter oben, schwangen die Riesenschädel der Ochsen wieder auf die Gasse hinaus. Die zwei Lastenträger waren in der Falle, weil der Esel sich nicht weiter bewegte.
  Wären die Ochsen Bauarbeiter von Bernhard gewesen, so hätten sie nun gewusst, dass damit die zweite Reizstufe des stoischen Deutschen erreicht war. Der drehte sich - immer noch ruhig - um die bepackte Achse, womit er die Longe zum Esel verkürzte und sich beim Abstieg nicht verhedderte.
Auf einer Stufe höher angekommen, trat er nochmals zu. Diesmal nach beiden Seiten, und jetzt tat es richtig weh, weil die gezielten Tritte auf die Nasenringe der Tiere trafen. Es erhob sich ein ohrenbetäubendes Gebrüll, und die annähernd eine Tonne schweren Ochsen bäumten sich dermaßen in ihren Gewölben auf, dass man das Gefühl bekam, die darüber liegenden Häuser würden von einem Erdbeben erschüttert.
  Beppo, der schlaue Esel, nützte die schmerzliche Verwirrung, um an  Scylla und Charybdis vorbei zu klettern. Aber dann blieb er eine Stufe oberhalb - außerhalb der vermeintlichen Reichweite der Hörner - plötzlich bockig stehen, als wolle er das Herausschießen der wütenden Ochsenköpfe  noch einmal regelrecht provozieren.
  Und die dummen Ochsen fielen drauf herein. Als sie mit mächtigem Schädelschwänken nachtarocken wollten, zeigte sich Beppo Bernhard als Bruder im Geiste zumindest ebenbürtig: Trotz seines in Hangneigung beladenen Schwerpunktes keilte er mit seinen zierlichen Hufen über die Hinterhand paarweise zweimal elegant aus - wie ein Lipizaner in der Wiener Hofreitschule - und traf die Monster noch einmal hart an den schmerzenden Nüstern.
  Bei den nächsten Anstiegen verschwanden die Köpfe dann in den Höhlen, sobald sie die beiden zu Gesicht bekamen. Bis Mittag war bis auf die Mischmaschine alles Material zu Bernhards Baustelle hoch geschafft. Die beiden Recken gönnten sich im Schatten der eingestürzten Altbauten eine ausgiebige Siesta, in der der Esel vom Geschirr befreit an eine schattige Mauer gelehnt schlief und Bernhard mit einem Sandsteinquader als Kopfkissen in das Azur des Himmels starrte und verzweifelt darüber nachdachte, wie er die Mischmaschine herauf schaffen sollte.
  Dann war auch er eingeschlafen. Als er erwachte, stand die Mischmaschine an einem geeigneten Platz vor seinem bröckeligen Tor. Ganz kommentarlos hatten die Alten ihm mit Ochsenkraft ihren Respekt gezollt. Na, nicht so ganz, denn ein noch feuchter Ochsenfladen stank breit geplatscht von seiner Eingangsstufe und beherbergte schon massenhaft dicke, grün schillernde Fliegen.
 
  In diesem ersten Jahr als Ruinen- und Grundbesitzer in Italien konnte Bernhard weder Italienisch noch hatte er einen Führerschein, der ihm eine unabhängige Mobilität ermöglicht hätte. Zum Telefon,  das nur mit Gettoni aus der Bar Tabacchi  im Capo luogo funktionierte und auf Fernamtvermittlung angewiesen war, musste er fast tausend Stufen hinunter und wieder zurück. Für Behördengänge war er auf den zweimal am Tag verkehrenden Bus angewiesen oder er klemmte sich zu einem der Olivenbauern in die für ihn viel zu kleinen Führerstände der Ape; jene nach Zweitaktgemisch stinkenden, dreirädrigen Lieferkarren, die bergab aus jeder Kurve zu fliegen drohten und bergauf so langsam wurden, dass man am liebsten ausgestiegen wäre, um zu schieben.
  Was Bernhard mit Worten noch nicht erreichen konnte, schaffte er mit seiner Hände Arbeit. Die einfachen Menschen im Appenin machten ja ohnehin nicht viel Worte. Aber sie wussten handwerkliche Fähigkeiten über alle Maßen zu schätzen. Es war  dies ja eigentlich nur als ein erster Urlaub zum Grunderwerb und zur Regelung möglicher notarieller Angelegenheiten  gedacht gewesen. Sein Konzept sah vor, dass er künftig die saisonal bedingte Arbeitslosigkeit als Maurer in Deutschland hier in Italien nutzte, um das in die Tat umzusetzen, was ihm als Achtjähriger in Vorpommern während des gnadenlos kalten letzten Kriegswinters geweissagt worden war und was er sich daraufhin selbst geschworen hatte:
  Ich will ein Schloss im Himmel, und nie wieder frieren müssen!
  Bernhard war von einer zögerlichen, reservierten Gott-Gläubigkeit, die keiner Religion anhing und beherzigte eine unumstößliche, persönliche Moral, so dass ihn Freunde schon mal flapsig in Anspielung auf seine Tätigkeit den "Freimaurer" nannten. Jedenfalls hatte er es als Fingerzeig des Himmels empfunden, als er erstmals bei der Suche nach seiner südlichen Traumimmobilie auf das Wehrdorf Castellinaria gestoßen war.
  Zunächst hatte ihm etwas vorgeschwebt, was die Einheimischen einen Rustico nannten - ein verlassenes Gemäuer auf einem ordentlichen Stück Land in Meernähe, auf dessen Grundriss man neu bauen durfte. Aber dafür reichte das Geld nicht, das seine Frau Traute und er zur Seite gelegt hatten, seit sie nach zwei Fehlgeburten wussten, dass sie kinderlos bleiben würden. Das waren rund 6000 Mark - ein halber Jahresverdienst. Aber was kostet schon ein Traum? Der Immobilien-Makler hatte ihm im schlechten Deutsch beschieden, dass er sich für diese Summe schon selbst auf die Suche begeben müsste,  ihm andererseits aber nachsichtig lächelnd den Tipp gegeben, sich in den weitgehend verlassenen Wehrdörfern des Hinterlandes umzusehen.
  Weil er ja im Urlaub war, hatte er sich sofort auf die Wanderung begeben. Am ausgetrockneten Flussbett des Impero entlang war er im gleißenden Licht in Richtung Berge marschiert. Kurz hinter der Römerbrücke von Pontedassio blickte er zu den Dörfern hinauf, die wie Perlen an den Zacken einer Krone hintereinander abgestuft und aufgereiht lagen, als seien sie von irdischen Wesen uneinnehmbar. Leuchtende Kleinodien im changierenden Grün von Oliven- und Eichenhainen, die auf Terrassen in den Himmel zu klettern schienen. Bernhard atmete so tief ein, als wolle er diesen Augenblick nicht nur optisch festhalten. Der heiße Duft von wild wachsendem Rosmarin, von Salbei, Lavendel und Ginster drang in Nase und Lunge. Samt der vorauseilenden Erkenntnis, dass er es gefunden hatte.
Da oben, im höchsten Ort würde er es bauen und es würde kein Luftschloss sein, wie es der Ortsname verheißen mochte: Castellinaria.
  Etwas über eine Stunde später in voller Mittagshitze war er an der steilen Ostflanke des um diese Zeit wie komplett ausgestorben wirkenden Ortes angekommen und blickte durch die leeren Fensterhöhlen und die Breschen im alten Gemäuer auf die Weinberge des tiefer gelegenen Nachbarortes, der in den azurblauen Dunst des Luftlinie nur fünf Kilometer entfernten Mittelmeeres ragte.
  Hätte das Schicksal es anders mit ihm gemeint gehabt, Bernhard wäre nicht nur ein Meister seines Faches und später ein umsichtiger Bauleiter geworden. In diesem Moment wurde er nämlich von einer übermächtigen Vision gepackt, wie dies alles aussehen könnte, wenn es denn seines und er auch sein eigener Baumeister wäre.
  "Si vende", sagte da eine Stimme hinter ihm.
  "Si! - Quanto?", antwortete Bernhard ohne sich umzudrehen mit einem von gut einem Dutzend italienischer Vokabeln, die er daheim von seinen Gastarbeiter-Kumpeln aufgeschnappt hatte.
  Doch so einfach war es zunächst nicht, um dann doch wieder viel unkomplizierter zu sein als in Deutschland. Weil Bernhard kletternd umrissen hatte, was er haben wollte, hatte er es auf einmal nicht allein mit dem ersten Mann zu tun, der ihn angesprochen hatte, sondern mit dreien. Und weil er für seine Frau Traute noch ein Stück Garten wollte, kam noch eine Witwe hinzu - und Fulvio, dessen Sandsteinquader es ihm angetan hatten.
  Bernhard hatte die ruhige Schönheit dieser Steine mit seinem geschulten Blick sofort erkannt, obwohl sie wie Kraut und Rüben auf dem Nachbargrundstück verstreut lagen und zum Teil schon dicht von Brombeerranken überwuchert wurden. Auf seinen unfreiwilligen Wanderungen hatte er genug Gelegenheit gehabt, die meisterliche Schicht-Technik ligurischer Trockenmauern zu studieren. Sie stützten die Terrassen  der historischen Olivenhaine zum Teil seit vielen Jahrhunderten unverrückbar. Hier und da waren sogar noch die Treppen aus massiven Trittsteinen zu sehen, auf denen die Bauern  die bisweilen zehn Meter hohen Mauern erklommen; lange, schmale Quader, die hintereinander versetzt zur Hälfte in der Mauer verklemmt waren und auch von gelegentlichen Erdbeben nicht herausgeschüttelt wurden.
  Man musste einen Blick für die Formen und Dimensionen der Steine haben, um sich eine Vorstellung von den Möglichkeiten der Gestaltung machen zu können. In den ersten Momenten seiner Visionen hatte Bernhard diese erkannt und daran eine praktische Überlegung geknüpft: Irgend ein Steinmetz hatte sich vor Jahrhunderten die Mühe gemacht, diese Sandstein-Quader zu brechen und zu behauen und ein Maurer hatte sie sich so geordnet, dass daraus ohne Mörtel oder sonstiges Füllmaterial ein solides Mauerwerk geschichtet werden konnte. Es ging also lediglich darum, für die Grundmauern ein mittelalterliches Puzzle mit modernen Materialien zusammen zu fügen, und Bernhard wusste, dass die unverfälschte Struktur grandios aussehen würde. Dass die Puzzle-Teile nicht selten bis zu einem halben Zentner schwer sein würden, focht ihn nicht an. Wozu hatte er denn den guten alten Beppo?
  Fulvio staunte nicht schlecht, als sich Bernhard bei ihm bis zum Winter verabschiedete und ihm seinen Sarg großen "Zauberkasten", der per Bahnfracht nachgekommen war, zur Aufbewahrung anvertraute. Mit einer Mischung aus Hochachtung,  Staunen und ein wenig Missgunst betrachtete er die neuen Grundmauern, die der Deutsche in Rekordzeit aus seinen "wertlosen" Steinen zusammengefügt hatte. Mit großen Stahlwinkeln, Wasserwaagen und Richtschnüren aus der Kiste hatte er aus den Vorgaben längst verblichener ligurischer Steinmetze ein Mauerwerk unerhörter Ästhetik geschaffen. Selbst das fast noch zur Gänze erhaltene Castello aus dem elften Jahrhundert im Zentrum des Dorfes wies nur an der Hauptfront eine derart erhabene Struktur auf:
  Je fünf ähnliche und doch nicht gleiche, sehr glatte Quader stützen rechts und links vom Eingang einen fast zwei Meter breiten und fünfzig Zentimeter hohen, leicht gewölbten Portalstein. Die zwei Fensterstöcke zur Gasse links und rechts vom Eingang waren Miniaturen dieser Konstruktion. Wenn die Mittagssonne der Länge nach in die Gasse schien, begannen diese Einfassungen honiggelb aus dem ockerfarbenen Netz des übrigen, rauer behauenen Mauerwerkes zu leuchten. Niemand konnte sich dieser archaischen Schönheit verschließen, und in dem Maße, in dem Bernhard den alten Steinen zu neuem Glanz verholfen hatte, schien auch die Fontana am Platz vor dem Castello plötzlich das Wasser eines erquickenden Jungbrunnens zu spenden. Jedenfalls wehte entfacht vom Tun des Deutschen ein neuer Wind durch die fast schon ausgestorbenen Gassen. Das waren weder Scirocco noch Maestrale, kein Libeccio und auch kein Tramontana - dieser Wind hieß Hoffnung und Zukunft für ein verlassenes Dorf.  Der tedesco pazzo hatte sich verblüffend schnell den nachbarschaftlichen Respekt als vicino Bernardo verschafft. Später  -gut vierzig Jahre lang - würden sie ihn alle nur noch Don Bernardo nennen.







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