Donnerstag, 28. Juni 2012

Eine Art Zauberberg

Castellinaria Kapitel 9


  Später sollte Bernhard einmal gestehen, dass er sich nie und nimmer auf sein italienisches Luftschloss eingelassen hätte, wenn er auch nur geahnt hätte, doch noch Vater zu werden. Die durch die alleinigen Versorgerpflichten bedingte höhere Verantwortung als Bauleiter war allerdings zweischneidig. Einerseits war der Kredit für Italien im Nu getilgt, andererseits ging der weitere Ausbau in Castellinaria nur sporadisch im knapp bemessenen Urlaub voran. Manches musste jetzt mit italienischen und aus der Heimat über die Adria geflohenen albanischen Bauarbeitern fortgeführt werden, sollte das Haus nicht wieder in den Ruinenzustand zurück fallen.
  Klar waren die vier ligurischen Freunde auch da wieder zur Stelle, aber immer konnten sie die jeweiligen Vorhaben auch nicht beaufsichtigen. Der Lenz, der die Zeit genutzt hatte, um im Ort zu Ansehen und Akzeptanz zu kommen, spielte nun in Bernhards Abwesenheit immer  häufiger die Karte des fürsorglichen Schwagers aus. Da die Schwestern immer noch – so sie dort zusammen waren – einen liebevollem Umgang miteinander pflegten, war es bei den ligurischen Familienmenschen keine Frage, dass das Tun der beiden Schwäger ebenso von den Familienbanden motiviert war.
  Auf einmal fanden die Kleiners aber bei ihrer Rückkehr den ehemals großzügigen Eingangsbereich ihres Hauses durch eine massive Mauer halbiert wieder. Sie war während ihrer Abwesenheit eingezogen worden, weil der Lenz der deutschen Arztfamilie, der er das unmittelbar an die Mauer grenzende Nachbarhaus zu einem vielfachen Gewinn verkauft hatte, auch einen Eingang von der Gasse haben wollte. Praktischer Weise war der Bauschutt des Umbaus dafür im kleinerschen Garten gelandet…
  Lucca, der im ganzen Haus des deutschen Doktors edelste Fliesen verlegt hatte, war gar nicht auf die Idee gekommen, die Anweisungen des Schwagers Don Lorenzo in Frage zu stellen und Bernhard von diesem „Umbau“ zu berichten.
   Allerdings war er durch eine anderweitige Motivation auch arg abgelenkt. Weil die die Arbeiten überwachende Arztgattin vor allem einen Blick auf Luccas schneidige Erscheinung geworfen hatte, unterhielten die beiden in engster deutsch-italienischen Freundschaft über nahezu ein Jahrzehnt eine leidenschaftliche Sexbeziehung. Der ganze Ort nannte den alten Eingang des Anwesens, der zum Garten führte, folglich auch „La porta di Lucca“. Es konnte passieren, dass Lucca erst unten durch diese Tür in die Campagna entschlüpfte, wenn der aus Deutschland angereiste Doktor oben bereits vom beschwerlichen Aufstieg schnaufend seine Koffer in die geraubte Diele stellte.
  Klar, dass zwischen Bernhard und Lenz – da konnten sich die Schwestern mit weiblicher List noch so sehr ins Zeug legen – die Tür zueinander für eine lange Zeit schwer ins Schloss gefallen war. Was den Lenz nicht sonderlich anfocht, denn er zog sein Ding durch. Am Ende der Siebziger sprach er, im Gegensatz zu Bernhard nicht nur fließend Italienisch, sondern hatte, bis auf ein Schmuckstück von Terrassen-Villa mit Gärten, Pool und Einlieger-Wohnung, das er für sich selbst behielt, alle oberflächlich renovierten Ruinen, die in Castellinaria ihm gehört hatten, verkauft; meist an betuchte Alltagsflüchtlinge aus Deutschland und den Benelux-Staaten.
  Bernhard meinte, der Lenz habe dabei mehr als eine Million Mark steuerfreien Reingewinn gemacht. Damit er die Bebauungs- und Spekulationsfristen von fünf Jahren auch parallel einhalten konnte, hatte er mit Gratisurlauben Familien-Mitglieder als Strohmänner- und –Frauen gewonnen. Auch die Körber-Zwillinge und selbst ihre mittlerweile gassenbreite Mutter, die nie und nimmer mehr dort hochgekommen wäre, waren so eine gemessene Frist pro forma Hausbesitzer in Castellinaria gewesen, wagten aber nicht, vom Lenz vor dem Verkauf einen Bonus für ihr Zurücktreten zu verlangen.
  Die Raffgier und Konsumstärke der neuen Bewohner dieses mittelalterlichen Wehrdorfes hatten aber auch positive Auswirkungen; vor allem auf die Infrastruktur. - Einmal abgesehen davon, dass der Ort vielleicht ein Jahrzehnt später gar nicht mehr zu retten gewesen wäre.
  Den endlich asphaltierten Serpentinen vom Capoluogo hinauf  folgte bald auch ein geteertes, steiles Sträßchen des neu gegründeten Konsortiums durch die Oliventerrassen zum höher gelegenen oberen Dorfrand. Das erleichterte Transporte und Lieferungen und trug ein wenig dem nun rasant wachsenden Bedarf an Parkplätzen Rechnung.
  Die kleinen heimischen Bauunternehmen, bei denen der Impresario meist Maurer und Architekt – beziehungsweise Geometra -  in Personalunion war, konnten auf einmal Leute einstellen und mussten nicht mehr zeitweise in andere Regionen Italiens ausweichen.  Diese völlig ungewohnte Vollbeschäftigung sorgte sogar dafür, dass, selbst bei der lausigen Steuermoral der Einheimischen, ordentlich Geld bis hin in  die Gemeindekasse floss. Erstmals wurde von der Comune  im Tal oben in Castellinaria auch Geld für Schönheitsreparaturen ausgegeben.
 
  Bernhards Weg nach Ligurien war von einem bestimmten Gefühl motiviert gewesen, das treffend in der italienischen Denkweise und Bedeutung als la nostalgia bezeichnet werden konnte. Er war keinesfalls schwermütig und konnte sich im doppelten Sinne sogar größte Lasten aufbürden. Es war auch nicht so, dass er süchtig war nach einer gewissen Leichtigkeit des Daseins. Es war wohl die Sehnsucht nach einer gewissen archaischen Existenz in den Aggregatszuständen des Lebens, die er auf den Großbaustellen Europas immer mehr aus dem Blick verlor.
  Die neuen residenti aus den Bildungs- oder Wohlstandseliten nordeuropäischer Gesellschaften hingegen hatten vordergründig meist andere Beweggründe für den Kauf ihrer meist schon vorrenovierten Häuser: Sie schufen sich damit ein Statussymbol und pflegten etwas, das sie für das dolce far niente hielten – zumindest die nicht mit dem Gelderwerb befassten Angehörigen.
  So entstanden in den Achtziger und Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts dort oben, aber auch in ähnlichen Dörfern der anderen Täler, zeitgeistige Karikaturen von Thomas Manns Zauberberg. Enklaven des Denkens und Verhaltens, die die Natur und das Naturell der unmittelbaren Umgebung nur soweit mit einbezogen, wie die eigene Wahrnehmung das zulassen wollte. Da Neid, Missgunst oder treudeutsche Werte jeweils im Reisgepäck verstaut wurden, entstand so etwas wie eine italienische Schein-Existenz. In Wahrheit mutierte Castellinaria zu einer Enklave Wohlstands-Europas, während die RAF und die Brigate Rosse ihr Terrorwerk verrichteten, der kalte Krieg seiner absoluten Eiszeit entgegen frostete und allenthalben die Umweltzerstörung fortschritt. Wer wollte, konnte - so er sich es eingerichtet hatte – dort ganzjährig auf der Sonnenseite des Lebens Gott einen lieben Mann sein lassen. Aber es gab keinen Gott in Castellinaria oder besser gesagt, er hatte sich von dort eine Auszeit genommen. Und das, obwohl Generationen dieses kleinen, an einen Felsgrat geklammerten Bergnestes in den tausend Jahren seiner Existenz, um ihn zu preisen, auf einer Grundfläche von etwa vier Fußballfeldern, nicht weniger als drei Kirchen und zwei Kapellen errichtet hatten…


Die Cliquen


Castellinaria Kapitel 8
   Während Bernhard und Traute sich auf den Weg machten, ihr eher bescheidenes, bürgerliches Glück zu finden, hatten es andere mit weniger Startschwierigkeiten nach dem Krieg längst gemacht. Im deutschen Wirtschaftswunder hatten Altreiche sich schnell wieder erholt und Neureiche noch schneller die Gunst der Stunde genutzt, um sich einen sozialen Logenplatz zu sichern.
    Wenn die Firma oder die Praxis im Aufschwung florierte, die Villa am Stadtrand gebaut war und die Kinder ihr Abitur gemacht hatten, widmeten sich die Bundesbürger ihrer gesellschaftliche Position in Vereinen oder besser noch Clubs. Dabei wurde Tennis zum Golf der Postmoderne. Jeder, der mit dem Schwung seines Schlägers nur halbwegs um seinen wachsenden Wohlstandsbauch herumkam, verbrachte seine Freizeit nun damit, die kleine Filzkugel mehr oder weniger gekonnt über das Netz zu befördern. Wer in einem Club Mitglied war, gehörte zur Elite, fühlte und verhielt sich auch so.
   Jene, die keinen Konditionszuwachs durch diese Betätigung erzielten, verlagerten den sportlichen Ehrgeiz dann eben auf die Club-Terrasse, wo sie Kontakte knüpften und sich im Idealfall als Mäzene profilierten. Der deutsche Tennisboom der Achtziger hatte seinen Ursprung im Ehrgeiz dieser ersten Club-Funktionäre und ihrer Ehefrauen, die ihre talentierteren Sprösslinge von Turnier zu Turnier kutschierten. Aber nur wenigen gelang der tatsächliche sportliche Durchbruch und deshalb drehten sich die Terrassengespräche dann nicht selten um zwischenmenschliche Kontakte. Wer bei wem saß, wenn gefeiert oder bei Mitgliederversammlungen abgestimmt wurde, bekam auf einmal eine andere Gewichtung; nicht nur in den rheinischen Wirtschaftszentren, sondern auch in Schwaben und Bayern. Es bildeten sich Gruppen, deren Tonangeber mehr oder weniger  direkt vorschrieben, mit wem man im Club sprach und mit welchen anderen die eigenen Kinder Umgang pflegten.
Es entstanden Cliquen.
   Vom Klüngel zur Clique – das war für den Lenz, dem Jahrmarktshändler menschlicher Eitelkeiten eine einfache Folgerung. Diese Cliquen hatten ja meist Geld, und wenn das gesellschaftliche Ansehen der Außenseiter in den  Clubs einen Schubs brauchte, war er zur Stelle. Dazu musste er nicht mal Mitglied sein. Er hatte bundesweit genug Kontakte, um mal auf einen Drink oder zu einem exklusiven Essen auf die Tennisclub-Terrassen der Republik eingeladen zu werden.
   Vor allem bei Spielpausen und Schlechtwetter-Frust, die den Sportbetrieb eindämmten, schlug seine Stunde, wenn er durch Schilderung „seines Dorfes im Süden“ die  ja im Deutschen latent vorhandenen Sehnsüchte weckte. Jedenfalls waren seine ersten fünf Häuser in Castellinaria im Handumdrehen an Adepten solcher Cliquen verkauft. Zu einem - aus deutscher Sicht – Spottpreis, die dem Lenz aber immer noch einen satten Gewinn von mehreren hundert Prozent sicherten. Genug, um gleich noch ein paar Häuser in Castellinaria zu erwerben, denn von da an ergab sich ja quasi ein automatisches Marketing:
  
   Der bis jetzt noch im Club trotz seiner üppigen Spenden nicht so anerkannte Elektro-Großhändler spielt in der Senioren-Rangliste Forderung gegen den die  Cliquen-Meinung beherrschenden Zahnarzt. Verliert zwar, aber kann beim Seitenwechsel einen „Passierschlag“ landen, indem er von seinem gerade erworbenen  Haus auf einem ligurischen Burgberg schwadroniert. Nach  dem Spiel will der Zahn-Doktor natürlich mehr wissen, hat er doch ein paar geschwärzte Märker schon auf halben Weg in der Schweiz liegen.
   So entsteht im achtsam  vom Lenz gewahrten Spekulationsrhythmus im auferstandenen  Castellinaria eine merkwürdige Besiedlungsstruktur, die vielleicht einmal in ein paar hundert Jahren von Völkerkundlern analysiert werden wird:
   Am oberen Ortsrand siedelt sich vorwiegend eine rheinische Clique an, während Schwäbische Tennisspieler rund um die Burg ihre südliche Traum-Immobilie in Besitz nehmen. Aber die Zeit schreitet ja voran, und Animositäten, die einmal da waren, bilden sich dann wieder heraus. Vor allem dann wenn sich der Elektro-Großhändler bei einem Schleifen-Turnier in die Zahnarzt-Gattin verknallt, sie ver- und - nach Verkauf seiner Firma - ins romantische Castellinaria entführt. Seine und ihre Kinder, die als Erben heranwachsen reden da alsbald  nicht mehr miteinander, obwohl sie jedes Jahr im gleichen Dorf alle ihre Ferien verbringen.
   Oder der Autohändler aus Stuttgart erzählt seinem Nachbarn in Bad Canstatt von dem Umstand, dass da wegen Familien-Streitigkeiten bald ein Haus zum günstigen Verkauf steht und übersieht wie bei dem die Markstücke in den Pupillen erscheinen. Es gibt ja nicht nur einen Lenz auf der Welt. Zumal der ja mittlerweile auf die 80 zugeht und längst eine Riesenvilla am noblen Capo Berta mit seien Gewinnen erworben hat.
   Nun darf  aber der Leser nicht glauben, die Deutschen Hoffnungssuchenden hätten nur zu kaufen brauchen und wären dann gleich ins Fertige gezogen. Fast alle Objekte hielten nur der  ersten, euphorischen Besichtigung statt, ehe sie nach dem ersten längeren Aufenthalt ihre Macken preisgaben. Daraus entwickelte sich – wie später noch zu lesen sein wird – eine für den Hauptort unter der Burg ertragreiche Subwirtschaft in Form diverser am Bau engagierter Kleinunternehmen. – Ganz wie im Mittelalter!
   Und weil sich die Deutschen - ohne das Vermutlich zu  wissen - wie einst die Patrizier von San Gimignano verhielten, kam es beim weiteren Ausbau zu manch kuriosem, architektonischen Wettstreit, bei dem einer versuchte den anderen zu übertreffen. Es entstanden neue Zinnen und Bergfriede, ehe die Gemeinde den Auswüchsen einen Riegel in Form von dann doch erstaunlich strengem Denkmalschutz vorschob.
   Da nach oben Grenzen gesetzt wurden, ging es teilweise in den Untergrund. Auf einmal wurden aus ebenerdigen Kellergewölben Appartements und Cantine wechselten mehr oder weniger ohne das Katasteramt die Besitzer, was in der Gegenwart gerade zu bösem Erwachen bei der Nachbesteuerung und der Überprüfung der Kataster-Einträge führt.



Dienstag, 26. Juni 2012

Mamma Giardini

Zur Abwechslung wieder mal ein regulärer Burgbrief:


Das Verhältnis "Herr und Hund", wie es Thomas Mann in seiner gleichnamigen Parabel aus dem Jahre 1918 schildert, bekommt hier im Borgo ganz eigene Perspektiven. Das liegt nicht an der deutlich gesunkenen Zahl herrenloser Vierbeiner, sondern vielmehr an der Tatsache, dass die wegen der Gemeindverordnung  mittlerweile ordentlich an der Leine Ausgeführten überwiegend von "Frauchen" begleitet werden. Mit einer Ausnahme: Bandito.

In Wirklichkeit heißt er natürlich nicht so, aber auch Tiere haben eben in meinem Blog ein Anrecht auf einen "nom de plume". Bandito also ist eine hinreißende Pfeffer-und-Salz Promenadenmischung in Jack-Russel-Größe. Er ist deshalb nicht ganz weiß, weil aus seinem Kurzhaarfell regelmäßig längere schwarze Haare sprießen. Der Anflug von Verwegenheit wird aber von einem großen, schwarzen Fleck über seinem rechten Auge geprägt. Klar, dass so ein Hund von Haus aus Narrenfreiheit hätte, aber sein Befreitsein beruht hier auf einer anderen Funktion. Er ist nämlich ein Vorbote.

Sobald Bandito die Burg betritt, ist jeder quasi offiziell informiert, dass Signora Giardini im Anmarsch ist. Signora Giardini kümmert sich um die Pflanzen und Bepflanzungen in den verschiedenen Ortsteilen und ist im  Rahmen dieser Tätigkeit auch die Chef-Unkrautvernichterin  und -Laubbläserin in den Gassen. An den Tagen, an denen sie nur mal kurz zum Gießen kommt, wäre ihr Vorbote gar nicht nötig, denn das macht die rüstige 60igerin ja sehr diskret.

Die Vorwarnung macht hingegen immer dann Sinn, wenn sie mit ihren schweren Waffen den Borgo betritt. Dann sieht sie nämlich mit ihrem Vollvisier-Helm und dem Brust- und Bein-Harnisch so erschreckend aus wie Boba Fett der Weltraum-Kopfgeldjäger aus den StarWars. Allein auf diesen Anblick vorbereitet zu sein, machte die Arbeit von Bandito schon lobenswert. Aber wenn er gewissermaßen von Piazza zu Piazza vorausprescht, weiß jeder, dass der ganze Ort gleich erschüttert wird wie beim legendären Angriff der Klon-Krieger.

Kein Zweifel, die Signora braucht ihre Rüstung, denn sie setzt ihren Feinden mit einer derart erbarmungslosen Verbissenheit zu, dass dem nicht nur das Kraut nicht gewachsen ist, sondern auch Mauerteile und schwereres Geäst wie Geschosse auf sie zufliegen. Erst kommt der Draht propellernde Hand-Mäher - allerdings in seiner schweren Ausführung, wie ihn auch unsere Olivenbauern zwischen ihren Ölbäumen verwenden. Dann wird mit einem Laubbläser nachgepustet, der möglicherweise einmal ein Geländemotorrad war. Jedenfalls kaum hat Signora Giardini den angeworfen, schallt es durch die Burg, als sei ein Motorrad-Grandprix gestartet worden.

Für die feinen Ohren von Bandito wäre das natürlich eine quälerische Belastung. Deshalb hat er seiner Vorboten-Aufgabe längst schon einen Zusatznutzen abgewonnen. Wird es ihm durch das lärmend herannahende Frauchen zu ungemütlich, verkriecht er sich bei der permanent unter Hunde-Entzug leidenden zweitbesten aller Ehefrauen in der Küche . Wohl wissend, dass dort stets eine Scheibe Schinken oder ein Zipfel Salami auf ihn wartet.

Übrigens muss niemand fürchten, dass dieser vierbeinige Freibeuter jemals seine Funktion nützt, um selber mal eine Tretmine zu legen. Das wagt er einfach nicht - Hat  er ja oft genug mitbekommen, wie gottserbärmlich die Giardini flucht, wenn sie so eine Hinterlassenschaft beseitigen muss...

Sonntag, 24. Juni 2012

Traute


Castellinaria Kapitel 7

Die, die nur nach dem Äußeren eines Menschen gehen, machen es sich oft bei ihren Beurteilungen wissentlich zu leicht. Das Vorurteil, eine Frau müsse nur gut genug aussehen, um Erfolg und Glück im Leben zu haben, hält sich sogar bei intelligenteren Menschen. Traute Körber war, bis sie sich endlich die Liebe ihres Lebens erarbeitet hatte, das Opfer multipler Vorurteile:
 
  Vorurteil 1: Wer einmal im Keller gehaust hat, bleibt meist auch ein Kellerkind - also sozial unterste Schublade.
  Als Familie Körber 1943 in Köln ausgebombt und  ins Bergische Land auf einen Bauernhof umgesiedelt worden war, musste die dreijährige Traute an der Hand ihrer älteren Schwester Hannelore schon große Strecken auf eigenen Füßen zurücklegen. Die Mutter schob den Kinderwagen mit den anderthalb jährigen Zwillingen Rolf und Renate und einen Bauch vor sich her, aus dem in zwei Monaten Tochter Nummer vier schlüpfen sollte: Vielleicht das Abschiedsgeschenk von Eddie Körber, der kurz nach seinem finalen Zeugungsakt auf möglicher Weise nimmer Wiedersehen an die Ostfront geschickt worden war.
  Die Demütigungen, die die Stadtkinder bis ein Jahr nach Kriegsende dort von der Landbevölkerung erfuhren, waren nichts gegen die Wohnverhältnisse und den Hunger, den sie trotz fleißiger Erntearbeit zu erleiden hatten. Der Bauer hatte ihnen eiligst den muffigfeuchten Unterbau einer Scheune frei geräumt. Plumpsklo und Pumpe zum Waschen lagen auf der anderen Seite vom Hof.
  Um die Versorgungsverhältnisse ihrer Kleinen bisweilen ein wenig zu verbessern, ließ Mutter Körber es zu, dass der Bauer ihr gelegentlich im Stall oder, in einem vermeintlich unbeobachteten Moment bei der Pause von der Feldarbeit die Röcke über den Hintern hochschlug. Was er dann machte, kannten die beiden großen Mädchen, die mehrfach spionierten, von Hengst und Stute auf der Weide.
  Durch eine Fehlmeldung kurz vor Weihnachten 1946 hieß es, sie könnten in ihre alte Wohnung zurück. So hoffnungsfroh waren sie gewesen, von dem Bauernhof fort zu kommen, dass sie eine Rückversicherung gar nicht in Erwägung zogen. Zu sechst standen sie mit ihrer armseligen Habe und löchrigen Klamotten vor ihrem einstigen Wohnhaus, das allerdings immer noch so aussah wie nach dem Bomben-Einschlag. Ein Zahlenverdreher bei der Straßennummer hatte sie zum zweiten Mal obdachlos gemacht.
  Bis 1947 lebten sie folglich in einer zum Massenquartier umfunktionierten Kaserne. Sie teilten die Stube mit einer Kriegswitwe, die zwei kleine Buben hatte. Das Zusammenleben war ein Alptraum. Hygiene und Privatsphäre konnten nur mit erheblichem Kraftaufwand bei der Selbstdisziplinierung erreicht werden. Die beiden Frauen vermochten immerhin jedoch im Wechsel einer bescheidenen Erwerbstätigkeit nachzugehen.
  Mutter Körber hatte dabei Glück im Unglück – oder umgekehrt? Sie fand Arbeit bei einer Änderungsschneiderei, die in einem ehemaligen Textil-Geschäft von den Eigentümern im eigenen Haus betrieben wurde. Bei dem Haus war nur der Dachstuhl zerstört. Weil sie sehr fleißig war und bei Überstunden nicht murrte, machte ihr der Arbeitgeber den Vorschlag, es sich mit ihren Kindern und den dort noch vorhandenen, nicht so ramponierten Möbeln,  unter dem unbeschädigten Teil des Speichers gratis häuslich einzurichten. Damit begann eine fünfjährige nahezu sklavische Abhängigkeit der Körbers, in der das Textilgeschäft wieder auferstand und  das Dach mit den Körbers drunter sowie Etage um Etage wieder saniert wurde, ohne dass sich jedoch deren Lebensverhältnisse sonderlich verbesserten. Dann erst flohen sie aus Verzweiflung in das Souterrain, aus dem sie der Lenz dann „befreite“
  Hannelore und Traute wurden trotz des Altersunterschiedes zusammen eingeschult. Die britische Besatzungsmacht hatte sich alle Mühe gegeben, das Deutsche Bildungssystem zu entnazifizieren und wieder auf ein gewisses Niveau zu bringen. Damit die Schüler nicht gezwungen waren, wegen der permanenten Nahrungssuche in diesen chaotischen Verhältnissen die Schule zu schwänzen, wurden sie von den Tommys mit einem Mittagsessen – meist Suppe oder Brei – zum Besuch des Unterrichts regelrecht angelockt. Damit Mutter Körber ungestört durchschuften konnte, nahmen die beiden großen Mädchen die drei kleinen Geschwister einfach mit in den Unterricht und Teilten den Inhalt aus den zwei Kommissbüchsen durch fünf. Niemand erhob Einwand dagegen, obwohl die mangelhaft ausgestatteten und kaum geheizten Klassenzimmer der Notschulen ohnehin hoffnungslos überfüllt waren…

  Vorurteil 2: Außergewöhnliche Intelligenz bahnt sich von selbst ihren Weg.
  Obwohl sich Traute im Gegensatz zu Hannelore mit ihren Leistungen aus den unüberschaubaren Klassen stets nachhaltig heraus hob, reüssierte sie nicht. Die Lehrer, die vor allem auch wegen der hohen sozialen Kompetenz, die Traute von Beginn an entwickelt hatte, nicht müde wurden, Empfehlungen für das Gymnasium und ein späteres Studium auszusprechen, fanden kein Gehör.
  Hannelores frühe Hochzeit war ebenso kontraproduktiv wie die wenigen Monate väterlicher erzieherischer Begleitung.  Eddie Körber hatte selbst am eigenen Leib verspürt, dass er durch die Heirat seiner Töchter einen Status einnahm, den Leute aus seinen Kreisen sich nie und nimmer hätten erarbeiten können. Warum sollte Traute dann unnütz die Zeit auf der Schule verplempern?
  1954 war Traute immer noch auf der Volksschule und alles hatte darauf hingedeutet, dass sie dort auch ihren Abschluss gemacht hätte. Wenn es im Leben des Lenz aus menschlicher Regung eine Handlung gegeben hat, die in der Folge zu etwas Gutem führte, dann war es sein Beharren, Traute müsse zumindest die Mittel- und danach eine Handelsschule besuchen. Die edle Tat wurde später allerdings von Traute selbst als Akt der alternativen sexuellen Langzeitversorgung enttarnt. Meesters Büro in Porz lag nur um die Ecke von den beiden avisierten schulischen Einrichtungen, und er selbst bestand darauf, sich persönlich um Trautes Fortkommen zu kümmern. Neben der Überwachung der Hausaufgaben sollte sie so auch gleichzeitig in den Vorzug kommen, alle fürs Büro von der Pieke auf zu lernen…
  „Dat Jerda, dat Aas“, hatte natürlich den Braten als erste gerochen und machte sich einen Spaß daraus, ein ums andere Mal ihrem Sex- und Geschäftspartner auf die vor  vorfreudiger Geilheit bis auf den Boden feudelnde Zunge zu treten. Und zwar so, dass es immer richtig weht tat.

 Vorurteil 3: Schönheit muss nicht arbeiten.
 Da war aus dem Gör, das langgliedrig und dürr war wie eine Gottesanbeterin plötzlich mit gerade einmal sechzehn eine hoch aufragende Schönheit geworden, die selbst angebetet wurde. Selbst der freche kleine Bruder, der sich immer über ihre Länge lustig gemacht hatte, verstummte. Gerade hatte er noch gemeint, wenn Traute jemals Männer abbekommen wolle, müsse sie wohl zwei aufeinander stellen, da rannten die Kerle ihnen bereits die neue Bude in Porz ein. Aber war Traute darüber glücklich?
  Ein Freund vom Lenz, der es in den wenigen Jahren zum Besitzer mehrerer großer Friseur-Salons gebracht hatte, spannte die überragende Traute gratis als Modell und Repräsentantin seiner neuesten Haarkreationen ein. Was Traute noch mehr zu einem Hingucker machte. Das wiederum blieb nicht ohne Folgen auf ihr soziales Umfeld. War sie mit Freundinnen zum Tanztee, stürzten sich die Jungs allein auf sie, was den anderen Mädchen unbeabsichtigt das Gefühl gab, Mauerblümchen zu sein. 
  Was tat Traute in ihrer angeborenen sozialen Fürsorge? Sie wurde den Galanen gegenüber unwirsch und abweisend, damit ihre Freundinnen besser zum Zuge kamen. Sie selbst blieb von da an stoisch hocken, was wiederum als unnahbare Arroganz ausgelegt wurde.
  Intellektuell unterfordert, zu Höherem befähigt, aber nicht erkannt und unnahbar schön glitt die Göttin in eine Isoliertheit ab, in der sie aber nach indischem Vorbild sechs Arme benötigt hätte, um die flinken zielstrebigen Hände von Schwager Lorenz Meester abzuwehren. Der Lenz hatte doch so gar nichts frühlingshaftes, war er doch erkennbar nun schon ein Mann in den Fünfzigern.
  Kaum aus der Handelsschule nahm Traute also eine Lehrstelle an, die sie, so weit es ging, aus der Reichweite dieser Fänge brachte. In Königsdorf begann sie eine Lehre als kaufmännische Gehilfin für Im- und Export. Paradoxer Weise bekam sie die Stelle, weil sie im Büro vom Lenz so gut aufgepasst hatte, dass  sie gleich als vollwertige Kraft eingesetzt werden konnte. Es brauchte ihr ja kaum jemand noch etwas beizubringen …
 
 Man stelle sich die ersten Begegnungen zwischen Bernhard und Traute am besten folgender Maßen vor:
  Aus dem Meer der allmorgendlich zur Arbeit schwappenden Köpfe auf den Bahnsteigen des Königsdorfer Bahnhofs ragten zwei Leuchttürme, die ihre Strahlen über allem kreisen ließen: Stadteinwärts Bernhard mit seinen Attitüden eines englischen Landjunkers und langem, sonnegebleichten Blondhaar sowie dem gepflegten Oberlippenbart, der sein stets gebräuntes Gesicht markant kontrastierte. Und auf dem gegenüberliegenden Perron ankommend schwebte die der Garbo so ähnliche Gottheit mit wöchentlich wechselnden, tollkühnen Frisuren, wie man sie nur von den Titelbildern der FÜR SIE oder der Constanze kannte.
  Am Anfang streiften sich die Strahlen lediglich oder kreuzten sich bestenfalls. Aber eines Morgens verhakten sie sich kurz, und von da an warteten alle anderen vergebens, noch einmal von beider Glanz beschienen zu werden.
Erst zehn Sekunden, dann zwanzig und schließlich eine volle Minute ertranken sie nun täglich - immer noch durch die Bahngleise getrennt - gegenseitig in ihren Augen. Dann wechselte Bernhard endlich mutig  auf ihre Seite und erwartete sie. Bewusst eine Verspätung in Kauf nehmend, artig unter Wahrung aller Anstandsregeln, sie im Gespräch auch formell siezend, begleitete er Traute erstmals zu ihrer Firma.

  Obwohl der direkte Augenkontakt die Initialzündung war, ist das keine Liebe auf den ersten Blick gewesen, die da zwischen Traute und Bernhard ihren Lauf nahm. Sie gingen ins Kino, wo sie zunächst einmal zögerlich Händchen hielten, aber sich noch nicht zu küssen wagten. Sie verabredeten sich am Samstagabend zwar zum Tanzen und gingen beim Slow auch auf Tuchfühlung, aber den ersten Kuss tauschten sie erst nach acht Wochen bei einem Sonntagsspaziergang am Rheinufer. Es war der Kuss seines Lebens, behauptete der 71jährige Bernhard und dabei schwammen seine Augen immer in etwas mehr Flüssigkeit als sonst.
  An diesem Sonntag war Traute schon 22 und noch Jungfrau. Bernhard war 25 und verdrängte schlagartig die nun scheinbar schon so weit zurück liegenden Exzesse mit seiner lesbischen DDR-Braut. Er wartete noch zwei Monate, bis er Traute vorsichtig fragte, ob sie nach dem Tanzen noch zu ihm in sein Appartement im „Bullenkloster“ käme…
  Diese Behutsamkeit, manchmal sogar Langsamkeit, bei den gemeinsamen Schritten, sollte ihr weiteres Leben prägen. Wieder einmal war Bernhard in einem Zeittunnel autarker Wahrnehmungen unterwegs, und dass seine Partnerin dies akzeptierte, gab ihm eine veränderte, aber noch stärkere Selbstsicherheit.
  Traute fand Bernhard auch in seinen Maurerklamotten äußerst attraktiv, aber den Kick versetzte ihr dieser Mann immer aufs Neue, wenn er in seinen Maßanzügen vor ihr stand. Lag es nun an Bernhards DDR-Vergangenheit, die ihn sichtlich reifer erscheinen ließ, oder auch an Trautes reservierter Schönheit, dass die zwei die stürmischen 1960er in einem Kokon erlebten. Klar hörten sie Beatles und Rolling Stones und manchmal twisteten sie sich auch die Seele aus dem Leibe, aber sie waren doch eher die Cliff-Richard-oder Paul-Anka-Typen. Zu ihrer Lebenshymne wurde jedoch Percy Sledges “When a Man Loves a Woman“. Sie wurde natürlich auch bei  ihrer Hochzeit 1966 gespielt.
  Was hatte die beiden abgehalten, schon früher zu heiraten? Sie waren doch einander so sicher.  - Die Welt war es nicht. Da kam die Kuba-Krise. Dann wurde Kennedy ermordet. Aber gleichzeitig erhob sich Köln immer noch nachhaltig aus seinen Trümmern. Banken, Versicherungen und Spekulanten überboten sich im Hochziehen gigantischer Verwaltungsgebäude. - Mittendrin der Lenz als eine Art Neunauge im Kölschen Klüngel, der sich überall parasitär festsaugte und den Versuch nicht aufgab, den „Beschäler von Traute“ (so nannte er Bernhard verächtlich vor Dritten) auf die dunkle Seite hinüber zu ziehen. Aber da Bernhard nur wenig von seiner Vergangenheit preisgegeben hatte, ahnte der Lenz nicht, dass Bernhard der Umgang mit Dunkelmännern durchaus vertraut war. Zudem konnte es sich der permanent sich selbst überhöhende Meester wohl nicht vorstellen, dass er die „Fünfte Kolonne“ in den eigenen Reihen hatte. Mag sein, dass Gerda Janke zunächst aus einer Art Eifersucht die Annäherung des Lenz an Traute immer wieder geschickt sabotierte. Aber da die rasant verstreichenden Jahre ihre Kinderlosigkeit besiegelten, wuchsen ihr Bernhard und Traute mehr und mehr ans Herz. - Wobei ihr langer Blick auf Bernhards männliche Attribute recht häufig nicht unbedingt etwas mit mütterlicher Zuneigung zu tun hatte.
  In der Praxis sah das so aus: Wann immer der Lenz etwas ausgeheckt hatte, um Bernhards Geradlinigkeit zu erschüttern oder ihn in Folge nicht ganz koscherer Vorgehensweisen von sich abhängig zu machen, steckte Gerda das der Traute.
  Der Lenz musste lernen, dass es, jenseits seiner Ränkespiele, eine unerschütterliche Aufrichtigkeit gab, gegen die ihm kein Mittel gegeben war. Das gefiel ihm nicht. Und es gefiel ihm noch weniger, dass dieser, sein neuer Schwager, immer nur einen kontrollierten Schritt davon entfernt war, seinem durchaus vorhandenen Temperament wie einen Vulkan ausbrechen zu lassen.
  Im Frühjahr 1967 überraschte er im Baubüro zu einer Großbaustelle am Kaiser-Wilhelm-Ring seinen Schwager dabei, wie er gegenüber Gerda Janke in einem Streit handgreiflich wurde. Er ahnte doch nicht, dass das einmal „part of the Game“ war. Gewalt gegen Frauen aktivierte bei Bernhard ganz kurze Reizleitungen. Dass hatte nichts damit zu tun, dass Gerda dem jungen Paar eine echte Vertraute geworden war. Jede andere Frau in dieser Lage hätte die gleiche ungebremste Reaktion bei Bernhard ausgelöst:
  Er zerrte den Lenz an seinen Jackett-Aufschlägen aus der Baracke an den Rand der Baugrube für die dreistöckige Tiefgarage. Eine falsche Bewegung, und der Lenz wär fünfzehn Meter tief gefallen:
 „Wie wär’s, wenn du dir mal einen gleich starken Gegner suchtest? Ich schau mir das ja schon eine ganze Weile an und ich weiß auch, dass du mich nur für einen rüber gemachten DDR-Trottel hältst. Aber sollte ich noch einmal erleben – vor allem bei Gerda und Traute – dass du eine unserer Damen nur berührst, dann hast du keinen Schwager mehr, der dich gerade noch vor einem Fehltritt bewahrt. Dann hast du einen Unfall!“
  Eine Stunde später lag Bernhards Kündigung auf dem Tisch, und irgendwie war von da an auch klar, dass beide wohl keine echten Freunde mehr würden.



Freitag, 22. Juni 2012

Blende(nde) 80

Regulärer Burgbrief aus aktuellem Anlass:

Ich ertappe mich immer noch dabei, dass ich rüber auf die Burgzinnen spähe. Aber da sitzt er nicht mehr unter seinem riesigen grünen Schirm, um an seinen Memoiren zu schreiben.
"Der Mond hat Blende 8" sollen sie heißen und von seinem einzigartigen Leben als einer der renomiertesten Kamaramänner Deutschlands berichten. Aber so ist das nun einmal häufig mit Menschen, die so übersprudelnd und witzig erzählen können. Sie tun sich schwer, wenn sie das alles auf einmal in begrenzende Zeilen fassen sollen. Vielleicht ist es ja auch immer noch zu früh, denn heute wird er ja gerade mal erst 80, und so wie er hier oben und auch außerhalb der Burg herumgewirbelt ist, hat er noch ein paar kreative Pfeile im Köcher...

Franz Rath - ausnahmsweise darf ich hier in den Burgbriefen den Echtnamen verwenden - hat mit Volker Schlöndorf und Margarete von Trotta hinreißende und epochale Filme gedreht. "Der junge Törless" hat mir ganz persönlich den Weg zu einer Bildsprache eröffnet, mit der ich später einen Teil meines Lebensunterhaltes verdienen konnte. Aber die Gewichtung seines Werkes überlasse ich lieber den Feuilletons, die ihn hoffentlich heute nicht vergessen werden, nur weil er den Trend zum Digitalen und die Computer-Trickserei nicht mitmachen wollte.
"If you are happy with what you get on film - why go digital?" ist einer seiner Wahlsprüche, obwohl er den - was seine private Fotografierei angeht - schon praxishalber längst über Bord werrfen musste.

Franz ist nicht mehr Burgherr. Er sitzt nicht mehr unter seinem Schirm von dem ich ihn nur allzu leicht mit einem gläschen Wein auf die Piazza hinunterlocken konnte. Vielleicht bin ich ja schuld, dass sich seine Memoiren noch verspäten. Im März jedenfalls hat er seine Zinnen mit dem schönsten Rundum-Blick des Borgos verkauft - wohl um spätere, altersbedingte Einschränkungen nicht zuzulassen. Er hinterlässt in der mitunter sehr obeflächlichen Alltäglichkeit hier ein Loch im Künstlerischen. Aber es gibt ja Hoffnung.

Das emeritierte Musikprofessoren-Ehepaar aus Mailand, das schon mal den Flügel hier hoch geschafft hat, ist den darstellerischen Möglichkeiten der Piazza bereits mit konkreten Konzertplänen verfallen. Die Kultur-Tiziana von der Gemeinde wird also wieder neu gefordert werden, und wer weiß - vielleicht schaffen wir ja mit Cinema in Piazza doch noch ein Schlöndorf-Festival mit dem Franz als Ehrengast.

Im Gegensatz zu den anderen hier,  sind wir gut dran und erleiden  keinen Franz-Verlust. Wir wissen ja, dass wir ihn in ein paar Wochen an der Würm in einem Biergarten wiedersehen.
Auch weiß wiederum er, dass für seine Edith und ihn hier auf der Burg jede Menge gemachte Betten warten.

Mittwoch, 20. Juni 2012

Wie die Steine aus der Spur gerieten


 Castellinaria Kapitel 6

Bernhards wunderbare Jahre auf Rügen waren auch die Zeit des Aufstiegs eines Mannes zum ganz großen Sportstar der DDR. Gustav-Adolf Schur, genannt „Täve“, war durch seine Leistungen auf dem Rennrad zu einem Vorreiter der kommenden Sport-Supermacht geworden und als erster noch aktiver Weltmeister 1959 in die Volkskammer eingezogen.
  Bernhard wurde nicht „Täves“ ultimativer Fan wegen der vielen Siege und dessen tadelloser Haltung als Sportsmann, die später im Exil der Schriftsteller Uwe Johnson (Mutmaßungen über Jakob) literarisch manifestiert hatte. Vielmehr entdeckte er in der  Geradlinigkeit des politischen Athleten sehr viel von seiner eigenen Einstellung zum selbst ernannten Arbeiter- und Bauernparadies:
  Wenn einer an einer Sache grundsätzlich mitarbeiten will, auch wenn einem da Auswüchse sauer aufstoßen, dann muss er dort, wo er anpackt, das Maul aufmachen. Das tat der „Täve“ (übrigens auch noch als er nach der Wiedervereinigung bis 2002 als sportpolitischer Sprecher für die PDS im Bundestag saß), und deshalb schwang sich Bernhard quasi solidarisch aufs Rennrad.
  Man hatte den „Ruinen-Bernd“ als Einzelkämpfer mit der Maurerkelle überall auf der Insel zu aufgelassenen Herrenhäusern und Villen geschickt. Die SED und ihre diversen Unterorganisationen hatten auf einmal auch einen enormen Bedarf an Schulungszentren sowie Sport- und Erholungsheimen. Zum Teil waren die so entlegen, dass er bei Eiseskälte und ohne bereits wieder funktionierende Installationen regelrecht in ihnen kampieren musste.
  – Er war also mit seinen verqueren politischen Ansichten erst einmal aus dem Weg. Denn ohne fahrbaren Untersatz war er deutlich isoliert von Kollegen, die seine Ansichten hätten teilen können. Aber als Held der Arbeit mit 10 000 Mark in der Tasche kam er trotzdem schneller an so einen Renner – wie ihn der „Täve“ fuhr - als der Rest der Bevölkerung. Der musste bei den nun durch die spontane Nachfrage provozierten Engpässen der VEB-Fahrradproduktion zum Teil erst einmal Bezugsscheine für einfachste Drahtesel erwerben. Bernhard jedoch erhielt sein Velo, das bis ins Detail dem seines Idols entsprach, direkt von der elitären Sportgeräte-Schmiede im Umfeld der Leipziger Sportfakultät und war mit ihm wieder zurück in der Polit-Agitation.
  Von da an sah ihn die Inselbevölkerung egal ob bei Gluthitze,  bei steifem Wind oder splittrigem Frost zu diversen Baustellen über das kupierte Gelände Rügens düsen. 30 Kilometer nach dem Frühstück von seiner nun festen Unterkunft in Gustow zur Arbeit  und abends auf Umwegen über die Genossen zurück waren keine Seltenheit. Aber jetzt war ihm zu Raum und Zeit auch die Kraft gegeben. Und die wuchs noch mit jedem geradelten Kilometer.
  Dem Streckenschwimmen, seiner zweiten Leidenschaft, frönte er, so bald die Wassertemperatur der Ostsee im Sund über 16 Grad lag. – Auch da interessierten ihn die übrigen Wetterbedingungen dann nur beiläufig.
  Er war zu einer testosteronträchtigen, nahtlos gebräunten Augenweide für Freunde der Körperkultur mutiert, als er sich für den Juli 1960 zum Sundschwimmen anmeldete. Das älteste deutsche Langstrecken-Schwimmen über 2,3 Kilometer von Rügen über den Strelasund nach Stralsund hinüber schien ihm der richtige Test für sein neues, ganz persönliches Kontinuum zu sein. Er hatte sich lediglich vorgenommen, die Strecke in etwa dreißig Minuten zu schaffen. Wie er dann unter den tausend Mitschwimmern abschnitt, war ihm eigentlich egal, denn er war ja kein registrierter Wettkampfschwimmer – eher ein Gentleman-Sportler.
  Für ihn wurde dann nach einem mühelosen Schwimmspaß über die spiegelglatte Meerenge tatsächlich eine Zeit von 30 Minuten 22 Sekunden registriert, was ihn vor allem wegen seiner richtigen Selbsteinschätzung  durchaus befriedigte. Er konnte nicht ahnen, dass ihn seine sportliche Leistung nach der Urkundenverteilung bei der abendlichen Tanzveranstaltung in eine neue, gänzlich andere Dimension seines Lebens stoßen würde.
  Bernhard hatte – kaum zu erstem Geld gekommen – in dem spießigen Umfeld des DDR-Alltags begonnen, ein besonderes Augenmerk auf gute und Stil sichere Kleidung zu legen. Ausgerechnet der KPD-Opa war hierfür die Initialzündung gewesen, denn der organisierte von Strausberg aus auf höhere Anweisung Reisen zwecks Meinungs- und Gedankenaustausch im Sinne der Sozialistischen Internationalen. Es lief im Wesentlichen darauf hinaus, dass ausgewählte und verdiente deutsche KP-Veteranen auf Einladung nach Italien oder Frankreich verbracht wurden, um sich vor Ort einen Eindruck davon zu verschaffen, wie die Genossen unter den kapitalistischen Bedingungen – beispielsweise denen des italienischen Wirtschaftswunders - ihre Ziele verfolgten. Auf Gegeneinladung sollten die italienische Socii   und die französischen Copains sich dann propagandaträchtig darüber vergewissern, wie viel toller dies unter den Paradigmen des real existierenden DDR-Sozialismus funktionierte – oder auch nicht.
  Die Berichte des Großvaters über den „Spaghetti-Kommunismus“ eines Palmiro Togliatti oder über den sozialistischen Jungstar Enrico Berlinguer hatten bei Bernhard wohl erstmals die (häufig wohl auch genetisch veranlagte) Sehnsucht nach dieser Leichtigkeit des Lebens im  Süden aktiviert; die Sehnsucht im goethischen Sinne nach „dem Land, wo die Zitronen blühen“ war es jedenfalls nicht. Die abgebildeten Genossen der PCI in ihrem Parteiblatt „L’Unita“, das dem KPD-Opa wegen der Berichte über seine Reisegruppen gelegentlich geschickt wurde, machten einen so gänzlich anderen Eindruck als die stets verknöcherte Riege der DDR-Führung. Berlinguer wurde in seinem Charisma eindeutig von der lässigen Eleganz seiner Kleidung gestützt, was selbst im miesen Druckraster  zu erkennen war.
  Kleider machen Leute. Dieser alte deutsche Spruch hatte in der DDR völlig an Bedeutung verloren. Selbst die halbstarke und  aufmüpfige DDR-Jugend, die sich in „Röhrenhosen“ genannte VEB-Jeans zwängte und sich Haartollen im Elvis-Stil kämmte, wirkte irgendwie hilflos uniform. Das wollte Bernhard nicht. Er fand, Sozialismus und Schick mussten sich nicht ausschließen, und sein Handwerk sollte ihn erst recht nicht daran hindern, schnieke auszusehen.
  Ein Freund von der Berufsschule hatte sich in Strausberg als Schneider „selbständig“ gemacht. Zu dem ging er und zeigte ihm die Fotos aus dem italienischen Parteiorgan. Der „baute“ zuzüglich eigener Ideen die Anzüge, Hosen und Jacken der italienischen Genossen  nach und wurde dadurch, dass die intellektuelleren Führungskreise später bei ihm schneidern ließen, einer der wenigen erfolgreichen „privaten Unternehmer“ der DDR…
  Mag sein, dass Bernhard mit seinem Auftritt bei der Siegerehrung und dem, was diesem folgte, so eine Art Anschub-Marketing für den Freund geleistet hatte: Jedenfalls sprang er bei der Siegerehrung mit einem federnden Satz blond und braun gebrannt in einem stahlblauen, zu seinen Augen passenden Maßanzug, auf die Bühne. Es war die zweite Begegnung mit Otto Dudenhove.
  Dudenhove war nicht nur Volkskammer-Abgeordneter, sondern er war als so eine Art „Capo di tuti Capi“ für alle Bau-Kombinate in Mecklenburg zuständig. Und der  zu diesem Zeitpunkt natürlich dort noch unbekannte Mafia-Ausdruck, der Bernhard später so geläufig werden sollte, passt in der Nacherzählung wahrlich am besten, weil Dudenhove seinen geplanten Aufstieg ins Politbüro durchaus mit den Mitteln eines Paten bestritt.
  Charakterlich ein echter Eisbär mit entsprechendem Raubtier-Instinkt schaffte es sein oberflächlicher Charme immer wieder, dass es seine Opfer erst vor Angst fror, wenn er sie schon auf einer Eisscholle zum Verspeisen isoliert hatte. Bernhard sollte es genau so ergehen. Die Eisscholle für Bernhard im übertragenen Sinne des Wortes war Dudenhoves Töchterchen Käthe, die an diesem  Abend Medaillen, Urkunden und Küsschen  verteilte.
  So lange war es noch nicht her, dass Bernhard „Held der Arbeit“ geworden war, und die Tatsache, dass er zeitlich als bester nicht  organisierter Schwimmer an die Spezialisten heran geschwommen war, bot daher dem Politiker Gelegenheit zum Schwadronieren. - Käthe und Otto wussten, wann sie Klasse vor sich hatten, die sie für ihre Ziele nutzen konnten.
   Während Otto also mehr blumige Worte zu Bernhard Kleiners sozialistischer Vorbildfunktion fand, als für die Leistung der eigentlichen Sieger des Sundschwimmens, winkte er die Fotografen herbei. Die schossen ein Foto von den sich freundschaftlich umarmenden Männern, an die sich Käthe drückte, als seien die Drei da schon diese spontan von ihr geplante DDR- Vorzeigefamilie: Der verwitwete Spitzenfunktionär, seine Tochter als Studentin in einem Männerberuf und der potenzielle Schwiegersohn, ein Maurer bäuerlicher Herkunft mit dem Stern eines Helden der Arbeit dekoriert – und ein Schwimmstar wider Willen.
  Bis dahin hatte Bernhard – einmal abgesehen von ein paar Maurer-Jungen-Abenteuern mit Mädchen, denen man im natürlich prostitutionsfreien Sozialismus als Gegenleistung Gefälligkeiten erweisen musste -  keine Ruhe gehabt, um Frauen kennen zu lernen. Sich an einem Ort länger als nötig  aufzuhalten, um einer Frau den Hof zu machen, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. Das sollte sich jetzt durch dieses Mädchen ändern, denn Käthe war fest entschlossen, dem sozialistischen Muster-Mannsbild Bernhard ein Kind zu machen.
  Da Bernhard keine Ahnung von Frauen hatte und dem Phänomen der wahren Liebe noch nicht begegnet war, hatte er natürlich auch erst recht keine Ahnung, dass es zu deren edlem Ideal-Bild auch Varianten gab, die von Machtinstinkten gesteuert wurden. Als ihm Käthe offen Avancen machte, war es um ihn geschehen. Er verliebte sich in das mittelgroße Mädchen mit den streichholzlang geschnittenen braunen Haaren, obwohl ihm der burschikose, knabenhafte Typ eigentlich nicht so lag.
  Käthe studierte Bau-Ingenieur in Rostock, und so wie Bernhard ein Ideal-Mann nach DDR-Muster war, so entsprach Käthe der Vorstellung, wie Frau in dem Arbeiter- und Bauernstaat zu sein hatte, wenn sie eine intellektuell gesteuerte Führungsposition einnehmen wollte: eine linientreue Kaderideologin, die keiner Aufgabe auswich, bei jeder Parteisitzung das Wort ergriff und sich gerade soviel weiblichen Charme zugestand, dass sie auf Knopfdruck begrenzte Begierde bei Kollegen auslösen konnte. Das geschah  aber ausschließlich, damit sie ihre Ziele leichter erreichen konnte.
  Beim ersten Knutschen mit Bernhard dachte sie, um in Fahrt zu kommen, an die Rundungen der etwas übergewichtigen Kommilitonin mit dem kantig slawischen Gesicht, die das Zimmer im Studentenheim mit ihr teilte. Natürlich besaß sie soviel Selbstkontrolle, dass sie dieser speziellen aber sicher karrierefeindlichen Neigung niemals nachgegeben hätte. Es ist aber denkbar, dass sie gerade deshalb sexuell so funktionell und offensiv bei Bernhard vorgehen konnte, weil sie sinnlich eigentlich nicht bei der Sache war.
  Bernhard merkte davon zunächst vor allem deshalb nichts, weil er umgarnt und umsorgt wurde wie seit dem Tod seiner Mutter nicht mehr. Und auch die Tatsache, dass ein so wichtiger Mann wie Otto Dudenhove ihn nicht nur wegen der Liaison mit seiner Tochter wichtig nahm, gab ihm ein gutes Gefühl.
  Dass der Funktionär ihn wieder nach Stralsund holte, weil er den jungen Mann um sich haben wollte, ihn zudem in „seine Kreise“ einführte, schmeichelte beider Eitelkeit. Bernhard stellte sich nicht einen Moment die Frage, wieso ihm Dudenhove, in dessen Macht es ja gestanden hätte, nicht gleich  Arbeit und Quartier im nur hundert Kilometer entfernten Rostock vermittelt hatte. War es doch so offenkundig gewesen, dass Käthe und er ein Paar waren und schon bald auch ans Heiraten dachten…
  Aber dann war eben wieder „politischer“ Alltag. Die Tageszeitungen mit den Aufmachern über den schwimmenden Helden der Arbeit waren beim Altpapier und drohten in Vergessenheit zu geraten. Das konnte der Propaganda-Profi Dudenhove natürlich nicht zulassen. Er sorgte also dafür, dass sein Schwiegersohn in spe als „Fachberater“ kaum noch von seiner Seite wich. Er spielte dabei bewusst mit dem Kontrast zwischen dem zivilen und dem handwerklichen Erscheinungsbild seines Protegées und verschaffte sich mit diesem Trick selbst Kompetenz. Denn tatsächlich hatte Dudenhove von den meisten Dingen am Bau keine Ahnung.
  So wie Bernhards Fixstern der „Täve“ war, so hatte sich Otto Dudenhove einen Mann als Orientierung für seine Karriereplanung erwählt, der etwa gleich alt und noch smarter bei der Auslotung und Erschließung persönlicher Geldquellen im real existierenden Sozialismus war als er selbst. Sie hatten Berührungspunkte, weil der Mann als Vertreter des Außenhandels auch in einer übergreifenden Baukommission saß: Alexander Schalck-Golodkowski.
  Der aalglatte Karrierist, dessen Doppelspiel zwischen beiden deutschen Staaten auch nach der Wiedervereinigung (wohl auf höhere Beeinflussung) bis heute nie vollständig ausgelotet werden konnte, war eindeutig charismatisch, kleidete sich da aber eher noch unvorteilhaft. Dudenhove, der sich von Bernhard bald die Adresse des Strausberger Schneidermeisters hatte geben lassen, reichte die flugs an sein Idol Schalck weiter, und es darf angenommen werden, dass die beiden darauf hin eine Art geschäftliches Interesse aneinander pflegten. Jedenfalls häuften sich in persönlichen Gesprächen mit Bernhard Sätze wie: Der Genosse Schalck-Golodkowski hat das gesagt. Der Alex meint dies. Der Golo glaubt das…
  Derweil radelte Bernhard an jedem freien Wochenende die hundert Kilometer zu Käthe nach Rostock. Anfangs noch mit einem Rucksack, in dem die „Ausgehkleidung“ verstaut wurde. Aber nachdem der KPD-Opa begonnen hatte, von seinem Taschengeld aus Italien Felgen, Reifen, Naben, Zahnkränze und Übersetzungen solcher Edelmarken wie Colnago und Campagnolo für seinen radnärrischen Enkel mitzubringen, war Bernhard die Idee zu seiner „Zauberkiste“ gekommen.
  Noch heute rätselt er, ob ihn schon da eine gewisse Ahnung dazu getrieben hatte, die fehlerhafte rundeckige Aluwanne, die er bei einem Zulieferbetrieb abgestaubt hatte, wasserdicht zu machen. Jedenfalls schuf der Schrauber und Bastler Bernhard mit den zwei ausrangierten Rädern Leipziger Bauart und einem zurechtgebogenen Lochblech-Profil als Deichsel einen ultraleichten Radanhänger, der mit einer Persenning komplett abgedeckt werden konnte. Die Konstruktion lief so leicht und verteilte den Druck trotz Zuladung derart gut, dass es in der Ebene kaum zur Verlangsamung des Fahrtempos kam. Bernhard hätte mit so einem „Buggy“ im Westen ein Vermögen machen können,  zumal er bis zum Frühjahr 1961 noch diverse Verbesserungen an seiner Erfindung vorgenommen hatte. Dann aber sollte die „Zauberkiste“ über Nacht eine gänzlich andere Bedeutung bekommen.
  Schlag auf Schlag hämmerte das Schicksal Bernhard da einen anderen Kurs ein. Es begann damit, dass Käthe sich Ende April schwanger fühlte und, was das Heiraten anging, aufs Tempo drückte. Doch die Euphorie, die Bernhard durch diese Verkündigung beseelte, erhielt einen Dämpfer durch ein denkwürdiges Besäufnis mit seinem Schwiegervater in spe.
  Am Abend des 1.Mai nach diversen Feierlichkeiten am Tag der Arbeit hatten die zwei nicht aufhören können und waren noch mit einer Flasche Wodka auf Bernhards Bude versackt.
  Es ist keine besondere Erkenntnis, dass sich  nüchterne Charaktere im Stadium der Trunkenheit anders offenbaren. Während Bernhard zu den Typen gehört, die ruhig und bedächtig werden, löste das Feuerwasser bei Otto Dudenhove einen unerwarteten Hang zu einer ansonsten gnadenlos kontrollierten Extrovertiertheit. Nie hätte er sich das gestattet, wenn er sich seines Schwiegersohns nicht schon so sicher gewesen wäre. Auf einmal verfiel er nämlich genial in die nasale Fistelstimme Walter Ulbrichts und hielt eine Ansprache, die bewusst und deutlich konspirativ nur für die Ohren Bernhards bestimmt war:
  „Maurer! Genossen in den Bau-Kombinaten! Es wartet eine große vaterländische Aufgabe auf Euch. Die Partei, das Zentralkomitee und ich haben gemeinsam mit unseren Genossen aus der glorreichen SU beschlossen, einen Schutzwall gegen die permanenten US-imperialistischen Übergriffe zu errichten, die sich vom Staatsgebiet der BRD aus auf die Souveränität unserer Deutschen Demokratischen Republik richten.“
  Hätte er die Augen geschlossen gehabt, Bernhard hätte die Sätze für eine Original-Ansprache gehalten. So aber hatte er sie vor Schreck weit aufgerissen, und lachen konnte er über diese perfekte Parodie auch nicht.
Zumal Dudenhove jetzt mit schwerer Zunge zwar, todernst in seine eigene Sprache zurück fiel:
  „Die Frontarbeit werden die Pioniere der NVA mit den russischen Genossen leisten. Von uns im Hintergrund erwartet man, dass wir die Logistik vorbereiten. Wenn du dich da mit einbringst, wirst du am Ende mehr sein als nur ein Held der Arbeit. Du musst mir helfen, große Mengen Material von unseren größeren Baustellen hier in Richtung Lübecker Bucht umzulenken. Ich brauche dafür einen verlässlichen Genossen, der den Deckel möglichst lang auf dem Topf halten kann und sich nach geeigneten Gebäuden umschaut, die mit wenig Umbauarbeiten als Quartiere für das aufgestockte Grenzpersonal geeignet sind.“
  Bernhard nickte versonnen, doch was der andere als kadertreue Zustimmung interpretierte, war das Bejahen einer schlagartig nüchternen persönlichen Entscheidung, die der „Freimaurer“ in Sekunden getroffen hatte. Er würde nicht helfen, die Spur der Steine zu verändern. Er würde sich selber verändern – räumlich!

  Am  darauf folgenden Wochenende versetzte er Käthe ohne Nachricht und kurbelte die etwa 270 Kilometer Landstraße von Stralsund nach Strausberg zu Großvater und Bruder in knapp sieben Stunden herunter. – Dabei hatte er bereits die gewisse, von allgegenwärtiger Staatssicherheit gespeiste Paranoia als „schwere Last“ im Rucksack seines schlechten Gewissens. Was, wenn Käthe nun tatsächlich schwanger war?
  Seine beiden letzten direkten Verwandten waren nicht wenig überrascht, ihn so unvermittelt mit dem Rad auftauchen zu sehen. Und sie waren besorgt, als er nach der gerade überstandenen Strapaze darum bat, sie mögen doch am Straussee einen schönen Abendspaziergang machen.
  Während sie zum Fischerkietz hinunterschlenderten, fiel Bernhard mit der Tür ins Haus:
  „Der Ulbricht will einen sozialistischen Menschenzoo aus uns machen. Er will uns einmauern und einzäunen – angeblich um uns vor US-imperialistischen Übergriffen zu schützen. Ich weiß nur nicht, wann und wo es losgeht. Ich bin aber für Juli wohl schon diesbezüglich an die Lübecker Bucht abgestellt.“
  Der linientreue SED-Opa machte einen weit weniger überraschten oder gar abweisenden Eindruck als Bernhard erwartet hatte. Sein Bruder Robert allerdings brach das kurze Schweigen als erster. Er, der nach dem 17. Juli 1953 und dem Aufstand der intellektuelle Jugend 1956 trotz Jugendweihe und FDJ-Zugehörigkeit nicht nur aufgrund seiner gesundheitsbedingten Zurückhaltung bei Aktivitäten manch Demütigung zu schlucken gehabt hatte, war längst ideologisch von der Linie abgerückt:
  „Das ist Verrat an der Idee. Da siehst du Opi, was du immer nicht wahrhaben wolltest. Wir leben im tiefsten Faschismus.“
  Bernhards Großvater machte einen gelassenen Eindruck und reagierte gar nicht empört auf den Angriff seines jüngeren Enkels:
  „Ich nehme an, es geht noch diesen Sommer los, denn ich habe dieser Tage die Mitteilung bekommen, dass es ab Juli keine Reisen mehr zu oder gar Einladungen für ausländische Genossen aus dem Westen geben soll. Für Juni steht noch eine Reise nach Mestre an, die venezianischen Genossen werden vierzehn Tage später zum Gegenbesuch erwartet. Dann soll auf höhere Weisung erst einmal Schluss sein mit unserer Beteiligung an Treffen der Sozialistischen Internationale außerhalb des Warschauer Paktes.“
  „Dann müsst ihr raus!“
  Bernhard wusste, dass sein Großvater, der nach dem Tod der Mutter ihr Vormund gewesen war, seinen kleinen Bruder schon einige Male als Unterstützung auf die Reisen hatte mitnehmen dürfen, wenn Schule und später das Studium dies zuließen.
  „Ich weiß nicht. In meinem Alter alles aufgeben?“
  „Denk an Robert und sein krankes Herz. Was hat der als Bruder eines Republikflüchtlings zu erwarten. Noch dazu, wenn der ein Held der Arbeit war?...“
  „Das heißt, du willst hier auf alle Fälle weg, wo du es dir doch gerade so gut eingerichtet hast?“
  „Ich habe mir geschworen, dass ich nie wieder frieren will und momentan ist mir ganz eisig kalt ums  Herz.“
  Es gab eine Schwester des verstorbenen SPD-Opas in Kerpen bei Köln. Bernhard empfahl ihnen, sich da hin zu wenden und drückte dem Großvater 4000 Mark von seiner Prämie in die Hand. Dann tranken sie noch ein paar wehmütige Gläser Bier in einer traditionellen Fischerkneipe, deren Gemütlichkeit der Resopal- und Plaste-und-Elaste-Sozialismus noch nichts hatte anhaben können.
  Im Morgengrauen war er ohne Abschied, aber mit der Hoffnung zurück geradelt, die beiden im anderen Deutschland wohlbehalten wieder zu treffen – mit oder ohne Käthe.
  Mitte Juni bekam Bernhard eine in Strausberg abgestempelte Postkarte. Auf einer persönlich unterschriebenen Autogramm-Karte von Berlinguer, die der Großvater wohl in einem Anfall von Galgenhumor umfunktioniert hatte, stand in der krakeligen, nur von nahen Verwandten zu entziffernden Schrift:
   „ Vinceriamo! Wegen des bevorstehenden Feiertages erwarten wir auch viele unserer westdeutschen Genossen. Salve Enrico.“
  Das war das vereinbarte Zeichen, dass der Großvater und Robert dazu entschlossen waren, sich am 16. Juni von ihrer Reisegruppe abzusetzen. Das bedeutete auch, dass Bernhard an diesem Tag, beziehungsweise in der Nacht zum „Tag der Deutschen Einheit“ seine bis ins Detail geplante „Ausbürgerung“ antreten würde.
  Und zwar ohne schlechtes Gewissen. In einigen vorsichtig und taktisch klug geführten Gesprächen mit Käthe hatte er erfolgreich ausgelotet, dass die fanatische Beziehung seiner Freundin zur DDR die vermeintliche Liebe zu ihm erheblich überwog – nein, eigentlich klar ausschloss. Diese bittere Erkenntnis  ging einher mit Käthes Geständnis, dass sie zwischenzeitlich längst wieder ihre Regel gehabt hätte. Anfang Juni war die Gefühlskälte zwischen ihnen spürbar so groß geworden, dass Bernhard einen bewusst mit Käthe herbei geführten Streit als inszenierten Abgang und Ausrede geplant hatte, - falls er bei seiner Republikflucht erwischt würde.

  Was dann tatsächlich ablief, ist ein aus Bruchstücken zusammen gesetztes Mosaik aus Spekulationen. Bis weit in die 1990er beharrte Bernhard darauf, er habe die DDR wegen eines „Kavaliersdeliktes“ verlassen. Obwohl er Stasi-Übergriffe da schon nicht mehr fürchten musste, ließ er sich detailliert weder über die Fluchtroute noch über die drei Monate aus, die er brauchte, um in Kerpen wohlbehalten wieder mit dem Großvater und seinem Bruder zusammen zu treffen.
  Da er auf seinem Rennrad samt „Zauberkasten“ dort eintraf, liegt die Vermutung nahe, die Flucht sei radelnd und schwimmend erfolgt. Das beharrliche Schweigen darüber war aber möglicher Weise auch aus Sicherheitsgründen derart in Fleisch und Blut übergegangen. Nach und nach trafen in Kerpen nämlich Genossen im Geiste ein; also andere „Freimaurer“, die mit Bernhard in verschiedenen Kombinaten und Kolonnen malocht hatten. Das Schlupfloch, durch das sie „rüber gemacht“ hatten, hielt zumindest bis zum Frühsommer 1962. Da war es auf Initiative von Bernhard schon zur Gründung des „Bullenklosters“ gekommen:
  Seine sieben „konspirativen“ DDR-Kollegen, Bruder Robert und Willy Granzow, der sich fortan verbat, KPD- oder SED-Opa genannt zu werden, zogen mit Bernhard in ein Appartementhaus vom Lenz, bei dessen Bau er gewissermaßen schon als Polier gewirkt hatte.
Aber da hatte ja schon die wirklich große, wahrhaftige und einzige Liebe seines Lebens Besitz von Bernhard ergriffen.